Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
angehoben, Augen, die sich bemühten, glasig auszusehen.
Das war ihr (dachte Jury und lächelte insgeheim) nun wirklich nicht gegeben. Lapislazuliaugen, die versuchten, ausdruckslos und leer zu scheinen - ein Ding der Unmöglichkeit selbst für einen Shakespeare-Darsteller, ganz zu schweigen von einer Teilzeitschauspielerin mit begrenztem Repertoire.
Und dabei war Carole-Anne in Wahrheit eine Ganztagsschauspielerin mit riesigem Repertoire, nur weil sie Carole-Anne war. Es fiel äußerst schwer, bei diesem jungen Ding bis zum Wesenskern vorzudringen. Frau. Junge Dame. Er war sich nie sicher; und ihr Alter änderte sich von Tag zu Tag.
»Danke.« Er grüßte Mrs. Wassermann mit der aufgerollten Illustrierten. »Ich kümmere mich um sie.«
Charlie Raine war anscheinend berühmt für sein Talent, Interviews aus dem Weg zu gehen und den Medien ein Schnippchen zu schlagen.
Jury las den Artikel über Sirocco, fing noch einmal von vorn an und las ihn ein zweites Mal. Darauf las er ihn ein drittes Mal. Die anderen Mitglieder der Band - Alvaro Jiminez, Caton Rivers, der hünenhafte John Swann (ein Sexsymbol, was er auch wußte), der Drummer, Wes Whelan -alle waren interviewt worden, alle hatten etwas von sich gegeben. Jiminez erzielte Spitzenwerte für Natürlichkeit und Intelligenz. Swann war ein einsilbiger Selbstbeweihräucherer, jemand, der mit sich selbst Tennis spielte. Whelan und Rivers wirkten recht still. Aber Charlie Raine war nicht einmal in der Hotelsuite gewesen, was der Reporter übel vermerkte.
Und so bekam der geneigte Leser über Siroccos LeadGitarristen und Sänger nur Informationen aus zweiter Hand. Wobei Jiminez eine verläßlichere Quelle war als jemand wie Swann, der allen die Schau zu stehlen suchte. Doch nicht einmal die Doppelhalsgitarre, die er andauernd ins Bild hielt, vermochte davon zu überzeugen, daß er der wichtigste Mann der Truppe war.
Wenn überhaupt, dann war es Alvaro Jiminez, der die Band ursprünglich zusammengestellt hatte, ein Schwarzer aus dem Mississippi-Delta, ein Meister des Blues. Whelan stammte aus Dublin, Rivers aus Chicago, und Swann und Raine waren Engländer. Eine merkwürdige Mischung, fand der Interviewer mit fragendem Unterton. Niemand ging auf die »Mischung« ein; niemand klärte ihn auf, wie sie sich gefunden hatten. Jiminez sagte: »Wir sind uns einfach über den Weg gelaufen.«
Und die wichtigste Frage überhaupt konnte niemand beantworten: Warum verließ Charlie Raine die Band? »Vermutlich« - Jury mußte lächeln, weil Jiminez nicht zu packen war - »will Charlie einfach nicht mehr.«
Und wie sollte es mit der Band weitergehen?
»Haarscharf wie früher, Kumpel«, hatte Swann gesagt (ein wenig aggressiv, befand der zartbesaitete Reporter).
Es gab mehrere Fotos von ihnen in ihrer schlampigen Kleidung und in unterschiedlichen Posen; salopp, ungeniert lümmelten sie sich in ihrer Suite im Ritz.
Das Interview war Quatsch mit Soße. Jury mochte die Band, sogar Swann, der irgendwie einem altmodischen Helden aus Kitschromanen glich. Zumindest bei diesem Interview waren sie ein Herz und eine Seele gewesen.
Jury legte die Illustrierte beiseite, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und ließ sich tiefer aufs Sofa rutschen. Nein, hatten sie gesagt, sie wüßten nicht, warum Charlie aufhören wollte. Nein und nochmals nein. Sie hatten nicht den leisesten Schimmer. Jury hatte durchaus einen.
Jury betrat den Saal durch die mittlere einer Reihe von Doppeltüren. Der Saal war leer, abgesehen von einem Mann an einem der Mischpulte zu seiner Rechten. Wohl der Toningenieur von Sirocco. Der Bursche gönnte ihm keinen Blick, widmete sich nur seiner Technik. Dem war es sicher einerlei, wer hier sein durfte und wer nicht. Beim Anblick seines langen Pultes mit den komplizierten Tasten, Hebeln und Knöpfen und den pulsierenden Lämpchen mußte Jury an ein Raumschiff denken.
Mary Lee hatte mit ihrer Einschätzung des Saals völlig danebengelegen. Er hatte überhaupt nichts von einem Hangar oder Lagerschuppen an sich, nein, er ließ immer noch ahnen, wie prächtig dieses Art-deco-Interieur einst gewesen war. Die Vorrichtungen für die Beleuchtung stammten wahrscheinlich nicht mehr von damals, aber er konnte sich auch täuschen.
Die Entfernung von seinem Standort hinten im Saal bis zur Bühnenmitte betrug an die dreißig Meter, und die Bühne mußte insgesamt das gleiche in der Breite messen. Das ist sicher mal die größte Leinwand von ganz London gewesen, dachte
Weitere Kostenlose Bücher