Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
diesem leuchtenden Gelb vom Schießstand bis zur Mauer schaffen wollte. Sie sah Tim an. Ein gelber Mantel, Vollmond und ein weißer Hund. Gott hatte etwas gegen sie.
Das war auch ein Grund, warum ihr Jane Eyre anfangs gefallen hatte, die dachte nämlich auch, daß Gott etwas gegen sie hätte; aber als Jane dann bei Mr. Rochester zu arbeiten anfing, da wußte Abby schon, was kommen würde und daß Gott gar nichts gegen Jane hatte; er stellte sie nur »auf die Probe«.
Ihre Gedanken wanderten wieder zu Stranger. Stranger war ihr und Tim gefolgt, war hinter ihnen hergezockelt, hatte in den Überbleibseln der Schneewehen gebuddelt und war weit zurückgeblieben.
Aber irgendwo mußte er sein. Und sie saß hier fest mit einem Irren, einem Ballermann, der ihre Tante umgebracht hatte, soviel stand fest.
Und sie hatte gar nichts. Nur ihren Stab, mit dem sie den Ballermann liebend gern zu Tode geprügelt, ihm den Schädel eingeschlagen hätte, daß sein Gehirn nur so übers Moor spritzte, und Ethels braven Hund, dem sie gern befohlen hätte, dem Irren an die Kehle zu gehen und an alle anderen Körperteile auch. Doch sie ließ den Kopf sinken und preßte die Fäuste gegen die Schläfen, denn sie wußte, daß sie ihn mit keiner dieser Waffen erwischen würde. Es hatte alles keinen Zweck.
Eine Idee schimmerte in ihr auf. Langsam hob sie den Kopf und beschirmte die Augen mit der Hand, kniff sie zusammen und blickte übers Moor.
Schafe.
Verdammt noch mal, wo steckten bloß alle?
Weavers Hall war, abgesehen von Melrose und dem Personal, wie ausgestorben; und mit Ausnahme von Ruby waren alle auf ihren Zimmern, denn Mrs. Braithwaite hatte beschlossen, wenn die Köchin krank sein konnte, konnte sie es auch, jedenfalls solange sie noch den armen Tolpatsch Ruby Cuff hatte. Sollte die sich doch darum kümmern, daß eine Platte mit kaltem Hühnchen, Käse und Salat auf den Mittagstisch kam.
Und nach dem Lunch hatten sich die Gäste in alle Winde zerstreut; Mrs. Braithwaites Kochkünste und dann auch noch ein Mord waren eben zuviel, dachte Melrose. Niemanden schien es zu kümmern, daß Superintendent Sanderson darum gebeten hatte, man möge sich für eine eventuelle Befragung zur Verfügung halten.
Major Poges hatte das Handtuch - besser, die Serviette -geworfen und verkündet, er würde in diesem Haus keinen Bissen mehr zu sich nehmen, ehe die Köchin nicht wieder auf den Beinen sei, er würde abends im »Weißen Löwen« speisen und ob ihm dabei jemand Gesellschaft leisten wolle? Nicht einmal die Principessa wollte; sie hatte eine gräßliche Migräne und zog sich in ihre »Gemächer« zurück. So wie sie es ausdrückte, hätte man denken können, ihr Zimmer in Weavers Hall gehörte zu einer Flucht von Räumen in einem prächtigen, wenn auch heruntergekommenen venezianischen Palazzo, dessen Fassade sich vor Melroses geistigem Auge nachts in den schimmernden Wassern des Canale Grande spiegelte. In seinen Phantasien gondelte stets Vivian daran vorbei.
Nur Malcolm genoß die Situation in vollen Zügen. Und er hatte das Thema »Mord an der Wirtin« ausgeschlachtet, bis Major Poges ihm frostig den Mund verbot. Also ersetzte er die blutige Leiche durch eine weitschweifige Beschreibung der blutigen Hühner, die Ruby erst erwürgt und dann, Malcolm zufolge, mit einer Kettensäge gänzlich hingemeuchelt hatte. Ihre sterblichen Überreste lagen jetzt kalt auf der Platte vor ihnen; Malcolm beschrieb das Schlachtfest so genüßlich wie Atreus, der Vater Agamemnons, nachdem er seinem Bruder Thyestes die eigenen Kinder als Kesselfleisch vorgesetzt hatte.
Melrose schob den bleichen Hähnchenflügel auf seinem Teller hin und her, aß einen Bissen kalte Kartoffel und dachte an Agamemnon, der von Klytämnestra und Ägisth umgebracht worden war. Die nächste Generation: Orestes und Elektra. Ja, es nahm und nahm kein Ende. Blutrache um jeden Preis, da mußten sie ja irgendwann durchdrehen (wie Ellen es ausdrücken würde).
Diese Gedanken gingen ihm durch den Kopf, während er hinaus in die Abenddämmerung starrte. Er runzelte die Stirn. Wo zum Teufel steckte Ellen? Nach dem Frühstück waren sie und ihr Motorrad die Einfahrt entlanggeschliddert und hatten auf dem Weg zu weiteren Leckerbissen der Bronte-Forschung - heute wollte sie sich Wycoller vornehmen - Schotter und Kiesel hochgespritzt. Das war fast zwölf Stunden her.
Er ging zum Kamin, trat nach einem kaum angebrannten Holzscheit, betrachtete sein Abbild in dem vergoldeten Spiegel und fand
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