Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
nicht dagewesen, als die Tragödie passiert war.
Melrose und Ellen standen mit ernster Miene an einer Seite des kleinen Grabes, in das man den Karton mit Buster (unter einem schwarzen Tuch) gesenkt hatte. Rings um das Grab waren sechs Kerzen aufgestellt. Auf der anderen Seite saßen Tim und Stranger dicht nebeneinander. Beide hatten verbundene Pfoten und blaue und grüne Bänder am Halsband, wie sie Hunde auf Hundeschauen bekommen. Tim zerrte mit den Zähnen an seinem blauen Band. Stranger sah mit gramvollem Blick erst zu Abby hoch, dann zum Himmel, denn für ihn schien sie mit ihren Worten eine Art Tierhimmel zu beschwören.
Ein kleines Mädchen in Taubenblau mit einem neuen Haarband (sicherlich Ethel, Abbys Freundin) stand neben den Hunden. Sie hielt den Kopf gesenkt, hatte die Händchen vor ihrem gestärkten Rock gefaltet und sah weitaus engelhafter und paradiesmäßiger aus als Abby, die sich im schwarzen Regenmantel und in Gummistiefeln mit der Bibel am Kopfende des Grabes aufgestellt hatte und mit ihrem windzerzausten Haar wie ein dunkler, wilder Racheengel wirkte.
Ob sie ihn ansah oder durch ihn hindurch, Jury wußte es nicht zu sagen. Als sie dann las, merkte Jury, daß es nicht aus der Bibel war, sondern aus einem Gedichtband mit dunklem Deckel und dünnen Seiten.
Nie wieder jagst du hinter meinen Schafen her,
Das Ohr gespitzt, den prächt’gen Schweif gesenkt,
Und deine Kreise ziehst du nimmermehr.
Während Abby las, huschte ein Schatten über Ethels Gesicht. Dann klappte Abby das Buch zu, und das Lesezeichen fiel zu Boden. Es war seine Visitenkarte, die er ihr gegeben hatte, ehe er nach London fuhr. War das wirklich erst gestern gewesen?
Sie nahm eine Handvoll Erde und ließ sie auf das schwarze Tuch rieseln.
Dann blickte sie ins Grab, nickte kurz und sagte, als wäre nun eine furchtbare Rechnung zwischen Buster und den unheilvollen Mächten dieser Welt beglichen: »Leb wohl.«
Und bleib kalt, dachte Jury.
Abby hob seine Karte auf, steckte sie in die Tasche und reichte Melrose die Schaufel.
Ethel spielte die Gastgeberin, reichte Tassen mit Tee und dicke Schnitten Schwarzbrot mit Butter herum. Sie war es gewesen (so verkündete Ethel), die Abby daran erinnert hatte, daß Trauergäste nach einer Beerdigung etwas zu essen haben müssen. So gehörte es sich.
Abby saß in ihrem Schaukelstuhl, umklammerte die Lehnen, daß die Knöchel weiß hervortraten, und starrte zu Boden. Ethel wippte durch die Scheune, denn ihr bauschiger Rock mußte fliegen, wenn sie ihren Spitzenunterrock zur Geltung bringen wollte.
Als sie eine Schnitte auf den Kisten-Nachttisch legte, flüsterte sie: »Das Gedicht ging über einen Hund ; Buster hat doch keine Schafe getrieben.«
Abby sah sie mit einem Blick an, der einen ganzen Pöbelhaufen hätte zur Strecke bringen können.
Ethel wirbelte davon, zurück zu Melrose, Ellen und den Hunden. Sie nahm ihnen die Bänder ab und steckte sie auf der Pinnwand fest. Es waren alte, verschlissene, verschossene Bänder. Jury bemerkte, daß Tim das blaue hatte und Stranger das grüne. Zweiter Preis.
Abby sah sie starr an; sie hatte jetzt eine Armlehne losgelassen und ballte die Hand auf dem Schoß zur Faust. »Haarscharf Ethel«, sagte sie mit einem Seufzer, die ersten Worte, die sie an Jury richtete. Er saß auf ihrem Bett tief in den Steppdecken.
»Haarscharf Ethel«, antwortete er lächelnd.
Ihre Mundwinkel bogen sich nach oben, aber sie unterdrückte das Grinsen. Grinsen gehörte sich nicht, nicht auf Busters Beerdigung. »Der Graf war dabei, als ich Buster abgeholt habe.« Angesichts von Jurys ratloser Miene setzte sie hinzu: »Beim >Wahren Freund<. Die Tierklinik. Er hatte seine Katze mit. Keine Ahnung, was er mit ihr gemacht hat.«
Bei der Vorstellung, daß Melrose Plant eine Katze in eine Tierklinik schleifte, mußte Jury lächeln. Es konnte nur eine streunende Katze gewesen sein, denn das einzige Tier, zu dem Melrose je im Leben eine Beziehung entwickelt hatte, war seine alte Hündin Mindy.
»Sicherlich war es nicht seine Katze«, sagte Jury. »Sie muß ihm unterwegs zugelaufen sein.«
»Ach so.« Abby schaukelte ein wenig schneller und verdaute die neue Information. Der Graf war also kein herzloses Scheusal, das Katzen aussetzte und sie nicht wieder abholte. »Jedenfalls ist er ganz schön schlau.« Ihre Mundwinkel hoben sich nun doch zu einem wohlgefälligen, kurzen Grinsen. »Er hat Ethels Versteck gefunden.« Sie warf Jury einen Blick zu. »Und ein Polizist ist er
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