Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
raus.«
»Ist Wiggins noch im Krankenhaus?« Jury nickte. Melrose fragte: »Wie geht es ihr?«
»Den Umständen entsprechend schlecht. Fällt immer wieder ins Koma. Wiggins sagt, sie redet wie im Traum. Über Healey, Ann Denholme. Dinge, die wir uns schon zusammengereimt haben.«
»Nötigung, Erpressung und so ähnlich?«
Jury trank einen Schluck Sodawasser. Die Kopfschmerzen ließen nach. »Anns Pech, daß sie sich an Rena statt an Charles gewandt hat. >Zahlen Sie, oder ich erzähle seiner Frau von Abby.< Lieber Gott, wer Rena erzählte, daß Abby Rogers Tochter ist, hatte sein eigenes Todesurteil unterschrieben.«
»Und wenn Nell Healey das mit Abby gewußt hätte, dann hätte die Furie den ganzen Batzen bekommen, nicht wahr?«
»Das gesamte Vermögen, würde ich meinen.«
»Meine Güte, was ist dieser Healey für Risiken eingegangen. Sich vor der Nase seiner Frau gleich mit zwei Weibern einzulassen. Ganz zu schweigen von Mavis Crewes.«
»Das Verhältnis mit Rena dürfte er aus reiner Habgier eingegangen sein. Und sie hat mit allen Mitteln versucht, mir Rache als Motiv auszureden - ich sollte denken, es ginge um Ehebruch.« Jury hob die Schultern. »Aber mit wem war sie nun wirklich auf Bimini? Ich lasse Wiggins gerade überprüfen, ob eine Heiratsurkunde zwischen einer Citrine und einem Littlejohn existiert. Vielleicht hat ja auch Roger das wenige, was Rena besaß, durchgebracht. Doch das werden wir wohl nie erfahren. Nur von Nell hatte Rena mit Sicherheit etwas zu erwarten, und darum hat sie sich auch so für sie ins Zeug gelegt, ihr den Rücken gestärkt.«
»Aber warum hat sie versucht, Abby umzubringen? Und das ausgerechnet einen Tag nach Ann Denholme? Dazu hatte sie doch noch alle Zeit der Welt -« Melrose verstummte. »Nein, doch nicht. Nell Healey kam schon am Morgen danach in U-Haft. Und alle drei Morde sollten so aussehen, als wollte sie sich an ihrem Mann rächen, weil er nicht nur eine Liebschaft gehabt hatte, sondern daraus obendrein ein Kind.«
»Versuchen Sie mal, sich in Irene Citrine hineinzuversetzen, als sie in die Scheune kam und das Sirocco-Poster sah«, sagte Jury.
»Warum hat nur sie allein ihn wiedererkannt? Hat er sich seit seinem fünfzehnten Lebensjahr so stark verändert?«
»Weil sie die einzige war, die genau wußte, daß Toby Holt noch lebte; nicht mal sein Onkel war da ganz sicher. Vor drei Jahren hat die Band in Kneipen in den Florida Keys gespielt. Und sie hat sich, vergessen Sie das nicht, mehrere Monate auf Bimini aufgehalten. Doch das allein ist es nicht. Es liegt auch am Kontext. Rena hat das Poster in einem Kontext gesehen, den sie kaum vergessen haben dürfte. Ein junger Mann lehnt an einem Baum, direkt neben einer Ansicht der Küste von Cornwall. Der einzige Mensch, der sie identifizieren konnte, und der ist genau hier in London.«
»Nun sehen Sie sich das bitte an«, sagte Melrose und kam halb von seinem Stuhl hoch. »Mit wem tanzt Vivian da? Falls man das Tanzen nennen kann. Sie hat ihm die Arme um den Hals gelegt.«
»Wo ist übrigens Ihre heißgeliebte Tante?« Dabei blickte Jury zur Tür des »Nine-One-Nine«, als könnte Agatha jeden Augenblick hereinmarschiert kommen.
»Irgendwo in Wanstead.« Melrose hielt es kaum noch auf seinem Sitz.
» Wanstead? Was macht sie denn in Wanstead?«
Melrose setzte sich wieder. »Nichts, aber sie wollte unbedingt mitkommen. Nachdem Sie im Ritz angerufen hatten, haben wir versucht, sie abzuschütteln, Fehlanzeige. Trueblood hat ihr weisgemacht, es handele sich um eine gräßliche Kaschemme, einen Treffpunkt von Kokain- und Crackdealern. Aber nichts half, sie wollte einfach mitkommen. Also haben Trueblood und ich es so gedeichselt, daß der Portier sie ins Taxi schob. Trueblood gab dem Taxifahrer eine Adresse, dann fiel ihm plötzlich ein, daß er sein Geld im Zimmer vergessen hätte, er knallte die Tür zu und sagte: >Fahren Sie schon ohne uns; wir kommen gleich nach.<«
»Soll das heißen, die arme Agatha irrt jetzt mutterseelenallein in Wanstead herum?«
»Die arme Agatha irrt nirgendwo mutterseelenallein herum. Wir sind doch Gentlemen, nicht wahr? Wir haben dem Fahrer ein Zettelchen zugesteckt, daß er sie, falls er die Adresse nicht findet, ins Ritz zurückbringen soll. Natürlich hat er die Adresse nicht gefunden. Sie existiert gar nicht.« Melrose freute sich diebisch. »Wir sind doch nicht herzlos, nur manchmal eine Nasenlänge voraus.«
»Lieber Gott«, Jury atmete tief durch. »Voraus sein bringt mich auf
Weitere Kostenlose Bücher