Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
Hilfe brauchen können. »Darum dürfte sich Nell Healey kümmern.« Jury gab es auf; er konnte in dem Dunkel hinten im Saal einfach nichts ausmachen, und so sah er wieder Charlie an. »Sie haben Ihre Schuld bezahlt, Charlie. Und überhaupt, Sie haben noch nicht alles erreicht, was Sie sich geschworen haben.«
Charlie schenkte Jury ein knappes, freudloses Lächeln. »Ach nein?«
»Nein. Sie sind noch nicht ganz Spitze. Sirocco hat noch nicht im Wembley Stadion gespielt.« Und Jury rief in den Saal hinein: »Ist das nicht die Reihenfolge, Mary Lee? Das Marquise, Town and Country, Odeon, Arena, Wembley?«
Ein Schatten bewegte sich und kam den Gang entlang. »Was ist mit dem Ritz?«
Jury beschirmte die Augen mit der Hand und sah genauer hin.
»Erinnern Sie sich noch an mich?« fragte Vivian.
Vivian hatte sich Marshalls Armani-Mantel um die Schultern gelegt. Darunter trug sie ein Kleid, das - so fand Jury, als sie sich der Bühne näherte - den Beifall der Principessa gefunden hätte. Es war burgunderrot, fließend, halb durchsichtig und schmiegte sich bis zu den Hüften, wo es dann weiter wurde, wie eine zweite Haut an ihren Körper. Es wirkte schmachtend, präraffaelitisch. Das Haar trug sie halb offen, so als hätte sich ein Teil gelöst, den sie eigentlich hatte aufstecken wollen. In ihren Ohren schwangen lange Smaragdohrringe. Beides, ihre Erscheinung (die einfach umwerfend war) und die Überraschung, sie hier zu sehen, bewirkten, daß in Jurys Kopf auf einmal Funkstille herrschte. »Warum zum Teufel haben Sie Marshalls Armani-Mantel an?« Wenn das nicht eine bescheuerte Frage war.
Aber sie wurde spielend damit fertig. »Weil ich seine Garderobenmarke in der Tasche hatte. Die anderen sind bei den Vorspeisen, und ich bin angeblich auf Toilette; wir haben ohne Sie angefangen, aber sie sind sicher noch lange nicht fertig, nicht wenn Agatha wieder ihren Kopf durchsetzt und sieben Gänge bestellt und Melrose eine Flasche Wein nach der anderen. Er hat mir gesagt, wo Sie stecken.« Vivian strahlte Charlie Raine an, und der schenkte ihr eines seiner Starkstromlächeln. »Man hat mich ausgetrickst. Die anderen durften Sie hören; ich nicht.«
»Das können wir immer noch nachholen.«
»Wirklich?«
»Klar.« Charlie schlüpfte in den Gurt der Fender. »Was soll es sein?«
»Toby Holt?« sagte Melrose. »Lieber Gott, mit solcher Willensstärke kann höchstens noch Agatha mithalten.«
Jury, der sich so weit entfernt von der Bühne wie möglich an das Tischchen gesetzt hatte, lächelte. »Vielen Dank, daß Sie nicht gleich gesagt haben: >Dann hat Commander Macalvie also doch recht gehabt<.« Er hatte höllische Kopfschmerzen, bewirkt durch Schlafmangel, Wiggins’ Bericht aus dem Krankenhaus und die aufpeitschenden Solos des Gitarristen Dickie (der Stan zufolge mit »Déjà-vu« beweisen wollte, daß er genauso schnell sein konnte wie Yngwie).
Melrose blinzelte in den rauchgeschwängerten Raum. »Wie kommt Vivian hierher?«
Jury faßte sich an den Kopf, als der Gitarrist noch eine wilde Sequenz von Akkorden losließ. Ach, wo war Wiggins mit seiner Taschenapotheke? »Es war ihre Idee.« Er deutete in Richtung der blau beleuchteten Bühne des »Nine-One-Nine«, wo eine Vivian ohne Pumps wild wogte und applaudierte. »Haben Sie noch eine von Ihren Zigarren?«
»Das war Vivians Idee?« Melrose durchforstete seine Jackentasche nach dem Zigarrenetui.
»Das hier ist eines der bestgehüteten Geheimnisse von London. Gehört zu den Undergroundlokalen, von denen man nur durch Mundpropaganda hört, und auch das eher nicht. Die Stammgäste möchten unter sich bleiben. Vivian wollte das >wirkliche< London sehen.«
»Ich will nicht zurück ins Ritz mit diesen ganzen reichen, langweiligen Touristen. Sie kennen doch sicherlich irgendeine nette, schäbige Kneipe.« Worauf Jury geantwortet hatte, er sei kein großer Kneipenbummler. »Aber manchmal müssen Sie doch eine Razzia machen, oder?« Sie war nicht davon abzubringen, daß er in der Unterwelt von London jede Kneipe kannte.
»Sie hat mich daran erinnert, daß es ihr letzter Abend in London ist. Ihre genauen Worte: >Mein letzter Abend auf englischem Boden.<« Er lächelte.
»Wie theatralisch.« Melrose hängte sein schwarzes Dinnerjacket mit dem gerippten Satinfotter nach außen über die hölzerne Stuhllehne. »Wenn wir sie tüchtig abfüllen, vergißt sie alles und fährt durch bis Istanbul.«
»Der Orientexpreß hält, glaube ich, in Venedig. Da wirft man sie
Weitere Kostenlose Bücher