Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
alles mit Nell Healey zu tun?«
»Ich dachte dabei mehr an Billy. Der Fall ist nie aufgeklärt worden. Es tut mir leid.« Er stand auf. »Sie haben mir sehr geholfen, und das in einer für Sie äußerst schmerzlichen Zeit.«
Daß er sich so leicht abwimmeln ließ, schien sie zu überraschen. »Nein, nein, ich bin nur etwas mit den Nerven fertig.« Die gebräunten, sehnigen Hände winkten ihn wieder in den Sessel zurück.
Jury setzte sich, gönnte ihr ein aufmunterndes Lächeln und sagte: »Wie lange waren die Healeys verheiratet, ehe der Junge verschwand?«
In den Tiefen ihrer grünen Augen funkelte es auf, eine Speerspitze schien sich auf ihn zu richten. Die Hand, die eben noch das Whiskyglas gehalten hatte, fuhr über die Falten des Rockes, dann senkte sie den Kopf. »Fünf, sechs Jahre«, sagte sie unbestimmt.
Dabei war Jury überzeugt, daß sie genau wußte, wie viele Jahre es waren. Die Jahre zwischen sechs und elf mußten für jedes Kind von großer Wichtigkeit sein, vor allem aber für ein Kind mit einer neuen Mutter. Er spürte, daß Mavis Crewes sich ihm entzog, jetzt seinen Fragen auswich. Es war wohl besser, wenn er nicht weiter direkt nach der Beziehung - oder ihrer Version davon - zwischen dem kleinen Jungen und seiner Stiefmutter fragte.
»Nell war - ist - eine Citrine.« Sie tat Jurys fragenden Blick mit einer ungeduldigen Handbewegung ab und fuhr fort: »Die Familie Citrine zählt zu den ältesten im Lande. Altes Blut, altes Geld. Charles hat eine Peerswürde abgelehnt .«
Stellen Sie sich das mal vor. Ihre gewölbten, säuberlich gezupften Brauen unterstellten, daß ein solches Verhalten auch für Jury unfaßbar sein mußte. Er lächelte insgeheim und wünschte, sein Freund Melrose Plant hätte sie hören können.
Nur der Kakadu hinter den Palmwedeln zeigte eine Reaktion auf das unglaubliche Verhalten von Charles Citrine, er schlug mit den Flügeln und drehte sich auf seiner Stange hin und her, während Mavis fortfuhr: »Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts gegen die Citrines. Trotz dieser Frau. Nun, vielleicht verdenke ich ihnen ihr vieles Geld und ihren Einfluß, denn dadurch ist sie nach der Anklageerhebung gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt worden. Aber sie rauspauken -das schaffen sie nicht. Gar keine Frage!« Sie nahm eine winzige schwarze Zigarre aus einem silbernen, ziselierten Etui und ließ sich von Jury Feuer geben. Dann lehnte sie sich wieder zurück und verzog sich hinter einer Rauchwolke. »Er ist wirklich ein feiner Mensch, Charles, meine ich. Ihm ist es zu verdanken, wenn der Lebensstandard dort oben ein bißchen gestiegen ist. In West Yorkshire. Hat Subventionen für die Spinnereien rausgeschlagen und Arbeitsplätze geschaffen, wo andere sie nur zerstört haben - tja, das ist wohl Thatcherismus, oder? Charles hat stets das Gemeinwohl im Sinn, und so ist man immer wieder an ihn herangetreten, für das Unterhaus zu kandidieren .«
Sie ließ sich weitschweifig über Nell Healeys Vater aus und endete mit: »Ich habe ihm geschrieben. Er soll wissen, daß ich mit ihm fühle. Ich fand, es gehörte sich so.«
Die Unterhaltung, die vor einer Stunde mit angeblicher Trauer um einen lieben Menschen begonnen hatte, verkam rasch zu einer Diskussion um Arbeitslosigkeit und Politik. Nein. Das ganze Gerede machte deutlich, daß Charles Citrine mit dem hohen Ansehen, das er genoß, für Mavis Crewes mehr war als nur ein eventueller Kandidat für politische Ämter. Sie mochte zehn Jahre älter als Healey sein. Und wahrscheinlich zehn Jahre jünger als Citrine.
»Natürlich ist es einsam für ihn, so allein in diesem Riesenhaus, nur mit Irene. Nennt sich selbst Rena. Wohl kaum eine anregende Gesellschaft für einen Mann von Charles’ Intellekt. Offen gestanden, die Schwester wirkt schon seit ein paar Jahren nicht ganz richtig im Kopf. Tja, so was wird mit der Zeit gewöhnlich schlimmer, nicht wahr?«
»Besser jedenfalls nicht, falls es sich um eine Psychose handelt.«
»Wenn Sie mich fragen, so ist die gesamte Familie, mit Ausnahme von Charles, nicht ganz dicht. Du liebe Zeit, dafür ist Nell wirklich das beste Beispiel.« Sie schenkte sich noch ein Glas ein, stürzte es hinunter, schenkte nach und stöpselte die Karaffe wieder zu. »Ehrlich, ich weiß nicht, ob Roger sie nicht deswegen geheiratet hat. Wegen des Geldes, meine ich.« Sie sah Jury an, als erwartete sie, daß er zustimmte, denn schließlich hatte er sich, ungeachtet der Umstände, schon einmal im gleichen Raum
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