Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
-«
»Kannst du nicht einmal ernst sein?«
Leider war er das. Bei der kupferhaarigen Heldin in Pollys venezianischem Krimi hatten ihn ernstlich Gedanken an die kupferhaarige Vivian Rivington angewandelt.
Vor den Terrassentüren schüttete es, was vom Himmel herunter wollte. Melrose wandte den Blick ab. »Agatha, falls du es vergessen haben solltest, noch ist Vivian nicht verheiratet.« Der Blitz, der wie ein Dolch herniederzuckte, und der dazugehörige Donnerschlag taten Melrose den Gefallen, diese (in Agathas Augen) düstere Andeutung noch zu unterstreichen.
Entweder war es der Krach oder die unterschwellige Drohung, jedenfalls fuhr sie richtiggehend zusammen.
Melrose widmete sich erneut dem Roman, er ließ sich nicht so leicht einschüchtern. Doch wieder sickerte die Stimme seiner Tante in sein Bewußtsein: ». haben wir uns gesagt, der >Alte Schwan< liegt für uns bequemer zum Zentrum. Außerdem ist er viel näher am Stray .«
»Reizender Ort«, sagte Melrose, der gar nicht wußte, wovon sie redete.
»Wo bleibt Ruthven? Muß ich den ganzen Nachmittag hier sitzen und auf ein bißchen Käsekuchen warten?«
»Hoffentlich nicht.«
Melrose blickte von seiner Seite auf. Gott sei Dank, Agatha hatte sich auf die Suche nach Gebäck und Gurkensandwiches begeben. Er sah sich im Salon um. Bei Regenwetter wirkte er trübe und dämmrig wie der venezianische Kanal, auf dem Pollys kupferhaarige Heldin dahingondelte, der es bestimmt war, am Ende den Dogen in Notwehr umzubringen.
Melrose griff nach seinem Sherry. Plötzlich fühlte er sich leer, ausgehöhlt.
Und auf einmal trieben Bilder von Vivian vorbei, so als ob auch sie zwischen den Seiten dieses Manuskriptes eingefangen wäre: Vivian im senffarbenen Twinset in der »Hammerschmiede«; Vivian, heiter und in Seide in Stratford-upon-Avon; Vivian in einem schäbigen Bademantel damals in dem Landhaus in Durham; Vivian beim Tee, beim Aperitif, beim Abendessen - Seine Augen wurden groß, als stünde er unversehens einer Geisterschar gegenüber. Womöglich hatte er einen furchtbaren Fehler gemacht ...
»Warum läßt du die Ohren so hängen, Melrose?« fragte Agatha, die mit einem Teller voller Sandwiches ins Zimmer zurückgestampft kam. »Man sollte meinen, du hättest deinen letzten - was ist denn das ?«
Irgend jemand knallte den Messingklopfer so heftig gegen die Tür, daß der Kronleuchter erzitterte.
»Warum können diese gräßlichen Gören nicht im Dorf bleiben, wenn sie schon Streiche spielen müssen? Nichts wäre einfacher, als Ruthven am Tor zu postieren, damit er sie wegjagen-«
»Für gewöhnlich stellen wir Jaguarfallen auf«, sagte Melrose. Aus der Eingangshalle drangen Aufruhr und erhobene Stimmen herein, und dann hörte er das zielstrebige Klappern von hochhackigen Schuhen auf Marmor näher kommen.
Vivian stand auf der Schwelle.
»Miss Rivington, Sir«, sagte Ruthven mit dem Rest von Förmlichkeit, den er aufbieten konnte; doch da er in ihrem Kielwasser gefolgt war, erübrigte sich die Anmeldung.
Melrose schoß aus dem Sessel hoch und schenkte seiner Besucherin ein einfach umwerfendes Lächeln. Einmal im Leben mochte er nicht an Zufall glauben. Das war Vorsehung. »Vivian!«
Vivian Rivington stand da in einem nassen Regenmantel, das Haar ein Gewirr regenfeuchter Locken, und streckte ihm ein großes Pappstück aus dem Ausschneidebogen hin.
»Was in drei Teufels Namen ist das ?«
»Überall wo Sie Schornsteine sehen, hat man dichtgemacht«, lautete der knappe und düstere Kommentar des Taxifahrers über die Spinnereien von West Riding, einst Zentrum der Wollindustrie. Das Taxi setzte ihn bei einem Autoverleih ab, und nach dem verrußten Tal von Bradford, den monotonen Häuserreihen mit Schieferdächern und Schornsteinen, die sich wie Treppenstufen hügelauf und hügelab zogen, hätte er eigentlich erleichtert aufatmen müssen, als er unversehens auf die weite Hochebene der Moore kam. Vielleicht lag es an der Jahreszeit, vielleicht an seiner Stimmung. Doch in den endlosen Mooren, den fernen, schnee- und granitgrauen Hügeln mit braunem Farn- und Heidekraut konnte Jury nichts sehen, was ihn in bessere Laune versetzt hätte.
Das Haus der Citrines am Rande der Moore von Keighley oder Oakworth schmiegte sich in ein Gehölz aus efeuumrankten Eichen und Buchsbaumgebüsch. Schwer zu sagen, wo das eine Moor aufhörte und das andere begann. Als Jury die schmale Straße zum Haus entlangfuhr, stob vor dem Auto ein Fasan aus dem abgestorbenen und fast knietiefen
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