Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
Farnkraut auf. Er war an einem kleinen Haus aus Stein vorbeigekommen, ursprünglich vielleicht das des Verwalters, jetzt jedoch unbewohnt, was man an den blinden Fensterscheiben erkennen konnte. Das ganze Anwesen wirkte ohnehin, als lohnte es die Mühe nicht, es »in Schuß« zu halten. Das wuchernde Unterholz, die abgestorbenen Äste, das Moos und die Schlingpflanzen würden es einfach zurückerobern.
Die Landschaft paßte ausgezeichnet zu solch einem mittelalterlichen Haus, ungefähr fünfzehntes, sechzehntes Jahrhundert, schätzte Jury. Rußgeschwärzter Stein, ein hochgewölbter Vorbau, reihenweise holzgerahmte Fenster über Torbogen, ein Türmchen an einem Ende, ein Turm am anderen. Es war sehr groß und wirkte sehr alt. Die Heizungsrechnung der Citrines hätte Jury nur ungern bezahlt. Ob es wohl schon immer im Familienbesitz gewesen war? Er wußte, daß das Geld der Citrines aus den Wollspinnereien stammte. Daß man die Synthetikfaser erfunden hatte, war nicht Charles Citrines Schuld.
Der Raum, in den ein Hausmädchen Jury führte, hielt, was die Fassade versprach: reinstes Mittelalter. Jury konnte sich unschwer vorstellen, daß er einst der Bankettsaal gewesen war, denn er hatte weder die Größe noch die Atmosphäre eines solchen eingebüßt. Die hochgewölbte Decke ließ ihn an eine Krypta denken. Am anderen Ende des Raumes befand sich ein großer gekachelter Kamin mit kupfernem Rauchabzug. Dahinter folgte ein langer Windfang, den schwere Vorhänge gegen Zugluft abschirmten und der vermutlich zur Vorratskammer oder zu Speisezimmer und Küche führte. Die Wände bestanden aus Fachwerk, das mit Steinen ausgemauert war. Ob die Steine wohl feucht waren, wenn man sie anfaßte?
Die Möbel waren schwer und dunkel und stammten aus der Zeit Jakobs I. Vor dem Kamin standen sich an den Enden eines langen Eßtisches mit Klauenfüßen zwei kunstvoll geschnitzte Barockstühle mit hohen Lehnen gegenüber. Es gab weitere Möbelstücke, ein Sofa und mehrere Sessel. Auf dem mit Steinplatten gefliesten Boden lagen Orientteppiche, doch auch die machten den Raum trotz ihrer ineinander verschlungenen und verblichenen farbigen Muster nicht anheimelnder und lebendiger. Überall Messing- und Zinngefäße voller Blumen: Chrysanthemen und Christrosen. Viele Blütenblätter waren herabgefallen, als kapitulierten auch sie vor der winterlichen Atmosphäre des Raumes. Sie nahmen dem Ganzen ein wenig den feudalistischen Anstrich, aber viel half es nicht.
Etwas jedoch lockerte die Atmosphäre ein wenig auf: ein Erker rechts an der Wand, der etwas erhöht und so groß war, daß er zwei Flügeln Platz bot. Die hohen Spitzbogenfenster, die sich über diesem bühnenartigen kleinen Raum wölbten, waren wunderschön.
Auf dem einen Flügel standen Noten. Beim anderen war der Deckel zugeklappt.
Niemand hatte sich um das Feuer gekümmert, und so war es heruntergebrannt. Warum wirkte der Raum nicht heimeliger, wenn schon nicht durch die Temperatur, so doch durch die Farbgebung? An der gegenüberliegenden Wand reichten die Bücherregale in den Nischen vom Fußboden bis zur Decke, und Bücher lassen ein Zimmer in der Regel bewohnt wirken, dachte Jury. Aber diese Bücherregale waren anscheinend nicht geordnet, Bücher und Zeitschriften waren gestapelt oder einfach unachtsam hineingestopft. Zwischen den Regalen gab es eine Sitzbank unter einem hohen Fenster, dessen bleiverglaste Scheiben wohl die Morgensonne einfingen. Er trat ans Fenster und fand die Aussicht deprimierend, denn sie ging auf den Hang eines moorigen Hügels und den verlassenen Hof, dessen Wohnhaus und Scheunen das Land wie Narben verunstalteten. Das einzig Lebendige hier waren Schafe mit schwarzen Köpfen, die vom Farngestrüpp abließen und zu Jury hochschauten.
Charles Citrine kam ins Zimmer getrottet - anders hätte Jury den nachlässigen, etwas schlurfenden Gang des Mannes nicht zu beschreiben gewußt; seine Hände steckten in den Taschen einer ausgebeulten Kordhose, und unter einer dreckbespritzten Denimjacke trug er ein kariertes Wollhemd. Aus der Ferne erweckte er den Eindruck eines Mannes, der in der Scheune gearbeitet oder einen Stall ausgemistet hat; von nahem sah Jury Sorgenfalten.
Er streckte Jury nicht die Hand hin und blickte ihm recht mißtrauisch entgegen. »Weshalb sind Sie hier, Superintendent?«
»Ich dachte, ich könnte helfen.«
»Ich wüßte nicht wie.« Das wurde in sachlichem, keineswegs feindseligem Ton gesagt. »Es ergibt doch alles keinen Sinn. Weder
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