Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
Rogers Tod noch Nells - ach, zum Teufel. Wieso nehmen Sie nicht Platz ... Wie wäre es mit Kaffee?« Citrine lehnte sich auf dem dunklen Holzstuhl zurück.
Jury dankte ihm, schüttelte jedoch verneinend den Kopf. Von Charles Citrine hätte er mehr Reserviertheit, wenn nicht gar offene Feindseligkeit ihm gegenüber erwartet; schließlich war er Zeuge gewesen, als seine Tochter das Verbrechen beging. Und es schien ihm auch nichts auszumachen, daß Jury hier eigentlich nichts zu suchen hatte. Wenn man bedachte, daß Nell Citrine keinerlei Fluchtversuch unternommen hatte, daß sie sich über die Beweggründe eisern ausschwieg und daß es ihr anscheinend einerlei war, was sie angerichtet hatte, so bedurfte es kaum eines Augenzeugen. Da sie nichts leugnete, erübrigten sich Indizienbeweise.
Und so war Jurys eigene Rolle weitaus unwichtiger, als man hätte annehmen können. Vielleicht wußte Citrine das, und es erklärte sein Benehmen.
Citrine wäre in jedem Kitschroman als »guter Fang« eingestuft worden. Er war in den Sechzigern und strahlte eine Vitalität, ja eine Sinnlichkeit aus, die halb so alten Männern bereits abging. Seine Bodenständigkeit und die lässige, von der Landarbeit geprägte Haltung (die wohl vor allem ein Beaufsichtigen seiner Landarbeiter war, wie es einem Gentleman anstand) wurden noch betont durch eine gewisse Weitläufigkeit, die er sich im Umgang mit allen möglichen Menschen erworben hatte. Trotz der Anspannung der letzten Tage benahm er sich wie jemand, der die Sorgen der großen weiten Welt aus seinen eigenen vier Wänden weitgehend ferngehalten hat. Diese Mischung aus Kultiviertheit, Lässigkeit und Unschuld mußte auf Frauen ungeheuer anziehend wirken. Ob sich auch Mavis Crewes davon hatte betören lassen? Unmöglich, sich die beiden als Liebespaar vorzustellen; Citrine war weitaus kultivierter und sehr viel klüger.
Dieser Raum ermutigte nicht zu lässigen Umgangsformen. Und doch schien sich Citrine darin wohl zu fühlen - wie konnte jemand nur auf diesem Monstrum von Stuhl aussehen, als säße er bequem? - und gleichzeitig auf Kriegsfuß damit zu stehen. Sein wettergegerbter Teint verlieh seinem graugolden melierten Haar etwas Leuchtendes, ebenso wie seinen Augen, die so klar und durchscheinend wirkten wie das ungetrübte Wasser einer Quelle.
Soviel Gelassenheit ging Jury auf die Nerven.
»Ist das nicht etwas gegen die Vorschrift, Superintendent? Ich meine, angesichts der Tatsache, daß Sie Zeuge der Anklage sein dürften?« Die Frage klang eher neugierig als kritisch, und er musterte Jury dabei mit seinen ruhigen, aquamarinfarbenen Augen.
»Ich muß nicht als Zeuge auftreten, da der Täter eindeutig feststeht.«
Citrine verwunderte sich. »Das verstehe ich nicht. Sie waren es doch, der Nell - der dabei war.« Citrine betrachtete die fast zu Asche verbrannten Holzscheite.
»Alles, was ich weiß, weiß auch die Polizei von West Yorkshire. Superintendent Sanderson.« Nicht alles. Wie hätte er es auch in Worte fassen sollen? Sie ist zum Pfarrhaus gegangen, durch den Ort, in ein Spielzeugmuseum. Und wie die Nuancen erklären: ihre Geistesabwesenheit, die Hand auf der Glasabdeckung der Spielzeugeisenbahn. Und was genau hätte er über Roger Healey sagen können? Was hatte der Mann gesagt oder getan, daß es zu diesem tragischen Ende kommen mußte? Alles nur Eindrücke, mehr nicht.
»Es sah so aus«, fuhr Jury fort, »als hätten sie Streit. Es schien sich um eine ernste Meinungsverschiedenheit zu handeln.«
Citrine hatte eine Pfeife aus der Tasche geholt, den alten Tabak in einem Aschenbecher ausgeklopft und sie frisch gestopft. Er zündete sie an. Würziger Qualm wölkte hoch, kräuselte sich und verteilte sich in der kalten Luft. »Angesichts des Ausgangs dürften Sie recht haben«, sagte er trocken.
Jury wußte, daß man ihn absichtlich falsch verstand. Er erwiderte nichts.
»Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte. Roger war ein liebevoller Ehemann, ein prächtiger Mensch. Mußte natürlich viel in London sein, das brachte sein Beruf mit sich. Und war vermutlich nicht mehr der alte, seit -« Er verstummte jäh.
»Falls Sie Ihren Enkel meinen, ich weiß Bescheid, und es tut mir aufrichtig leid, Mr. Citrine. Wirklich. Ich möchte einfach nur herausfinden, warum das hier geschehen ist.« Er machte den Versuch eines Lächelns. »Setzen Sie mich vor die Tür, wann immer Ihnen danach ist.«
Charles Citrine bemühte sich ebenfalls um ein Lächeln. »Tja, das möchten wir
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