Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
Art melancholische Schönheit. Ihre Augen waren nicht zu erkennen, da sie den Blick gesenkt hielt, aber ihr Haar hatte die Farbe von Mahagoni, und ihr Teint war so klar wie der des jungen Mädchens. Eigentlich sah sie wie eine etwas veraltete Ausgabe des Kindes aus, wie das Vorjahrsmodell, noch gut erhalten, jedoch an den Säumen etwas ausgefranst. Wahrscheinlich die Mutter der Kleinen, die sich da mit einem Eifer betätigte, als sei das die letzte Gelegenheit zum Fegen überhaupt.
Unversehens blickte sie auf. »Oh, Entschuldigung. Ich war mit meinen Gedanken woanders.« Selbst noch das Lächeln wirkte verkniffen. »Sind Sie Mr. Plant? Das Fremdenverkehrsamt hat Ihretwegen angerufen.«
Melrose nickte. Ihre Schönheit wirkte irgendwie unbeabsichtigt; zwar waren alle Zutaten vorhanden, dennoch war sie dem Schöpfer nicht richtig geraten, war wie die Studie zu einem Porträt, das dem Maler mißlungen ist: die Augen standen weder zu eng noch zu weit, aber die Iris war ein verwaschenes Blau; ein voller Mund, aber mit hängenden Mundwinkeln.
Sie streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Ann Denholme.« Sie wollte schon nach seinem Koffer greifen, aber Melrose nahm ihn ihr ab.
»Die Familie, die vor mir gekommen sein muß - wie lautet wohl ihr Name?«
Sie traten durch eine schwere Eichentür auf eine Diele mit viel dunklem Holz und verblichenen türkischen Teppichen. »Braine, Mutter und Sohn.« Sie sah abfällig zum oberen Stockwerk hoch. »Kaum angekommen, und schon gibt es Krach zwischen dem Sohn und Abby, und sie droht zu packen und abzureisen.« Sie hängte das Umschlagtuch an einen Haken an der Tür, verschränkte die Arme und rieb sich mit bekümmerter Miene die Ellbogen. »Ein richtiges Früchtchen, dieser Junge -«
Melrose lächelte und nickte.
»- aber es geht offenbar nicht in Abbys Kopf, daß sie mit Gästen nicht umspringen kann, wie es ihr beliebt.«
»Ich habe angefangen, nicht Abby.«
Ann Denholme, die ihm auf dem Flur vorausging, blieb stehen und drehte sich um. »Sie?«
»Ja, ich. Der Sohn gehört zu der Sorte, die Zitronenfaltern und Turteltauben die Flügel ausreißt.« Jetzt standen sie auf dem Treppenabsatz. »Er hat von mir einen Rüffel bekommen.«
Auf dem langen Flur kamen sie an mehreren hübschen Nußbaumtüren vorbei. »Weswegen?« fragte sie.
Ah, der böse Bube hatte sich ausgeschwiegen; ihm lag wohl nicht daran, daß Melrose seine Version zum besten gab. Außerdem konnte man ja nicht wissen, ob Melrose nicht nächtens mit seinem Totschläger auf den Fluren umging. »Er hat die Hühner aufgescheucht. Welches ist mein Zimmer?«
»Die Hühner?« Sie musterte ihn mißtrauisch, während sie die Tür öffnete, den Türknauf in der Hand behielt und stehenblieb, um ihm den Vortritt zu lassen.
Es war ein viktorianisches Zimmer, vollgestellt und vollgestopft mit einem Himmelbett, samtbezogenen Ohrensesseln, einem Schreibsekretär, langen Vorhängen mit schweren Kordeln, einem Waschständer, verblichenen Blümchentapeten, einem goldfarbenen Heizlüfter im leeren Kamin, Keramik auf dem Kaminsims. Trotzdem ganz reizend, wohl wegen des Übereifers, mit dem eine kleine, alte Dame mit Rüschen und Spitzenhäubchen herumgeschwirrt zu sein schien, um ein weiteres Stück überflüssigen Zierats hinzuzufügen.
Während er die Riemen aufschnallte und den Koffer öffnete, sagte er: »Ich habe Ihre Tochter heute beim Tierarzt getroffen. >Dein wahrer Freund<, so hieß die Praxis wohl.«
»Abby ist nicht meine Tochter.«
Ihr Ton schien ihm frostig. »Nein? Aber sie sieht Ihnen unglaublich ähnlich, und da sie hier wohnt, dachte ich ...«
»Sie ist meine Nichte, die Tochter meiner Schwester. Daher wohl die Ähnlichkeit.« Ihre Augen hingen an Melroses seidenem Morgenmantel mit dem Paisleymuster, ein Geschenk, das ihm Vivian von einer ihrer venezianischen Spritztouren mitgebracht hatte. »Ist der aber schön. Ich mag schöne Stoffe, nur leisten kann ich sie mir leider nicht.« Daß sie sich einfach auf sein Bett gesetzt hatte und seinen Morgenmantel bewunderte, kam Melrose etwas eigenartig vor, auch wenn es noch so schmeichelhaft war. In Weavers Hall schien sich alles jäh zu entladen - Streit, Sex -, wie ein Ausschlag.
Ein kurzes Klopfen am Türrahmen, dann fragte eine rotbackige, ältere Frau: »Nehmen Sie ’nen Becher Tee, Sir?« und streckte ihm einen dicken Steingutbecher hin. Sie hatte ein Gesicht wie ein Stiefmütterchen.
»Danke, Mrs. Braithwaite«, sagte Ann Denholme kurz angebunden. Doch das
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