Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
schien die Frau überhaupt nicht zu stören. Sie knickste und entfernte sich mit demselben Lächeln, mit dem sie gekommen war. »Normalerweise nehmen die Gäste den Tee um diese Zeit unten im Salon, aber ich dachte mir, unter den gegebenen Umständen ...« Sie verstummte.
»Sie denken, ich möchte Mrs. Braine und ihrem Sohn lieber aus dem Weg gehen?« Melrose ärgerte sich ein wenig, daß er unter Zimmerarrest gestellt wurde, nur damit es nicht noch mehr Ärger gab. »Ganz im Gegenteil, ich würde den anderen Gästen sehr gern beim Tee Gesellschaft leisten.«
»Wirklich? Es gibt nur zwei andere Gäste. Ich kann mir kaum denken, daß Sie viel mit einem ältlichen Major und einer etwas ... hmm ... verblühten italienischen Prinzessin anfangen können. Jedenfalls behauptet sie, eine zu sein.« Ann Denholmes Lächeln sollte wohl andeuten, daß sie ihre Gäste mit Humor nahm. Dann sagte sie: »Ich möchte ihnen jedoch nicht verschweigen, daß sich die Mutter furchtbar über Abby aufgeregt hat. Und über Sie.«
»Miss Denholme, ich kann dazu nur sagen, daß ich mich über die Braines nicht aufgeregt habe. Der Sohn gehört in eine Erziehungsanstalt.«
Ann Denholme errötete ein wenig, offenbar war ihr aufgegangen, daß sie die Sache am falschen Ende angepackt hatte. »Selbstverständlich. Mrs. Braithwaite hat den Tee gewiß schon serviert. Sie soll Ihnen gleich noch eine Tasse holen.«
»Hier ist mein Becher« - er hielt den blauen Steingutbecher auf Armeslänge von sich -, »der tut es.«
»Nein, nein. Ich will nur eben Mrs. Braithwaite sagen .«
»Bitte, bemühen Sie sich nicht. Ich bin sowieso in zwei Stunden mit einem Freund zum Essen -«
Aber da hatte sie das Zimmer bereits verlassen.
Melrose seufzte und schüttelte den Kopf.
Er hätte lieber petzen sollen.
Im Salon entlockte jemand dem Klavier schauerliche Mißklänge, es klang, als tapste eine Katze über die Tasten.
Das Klavier mußte irgendwo hinter der offenen Tür stehen. Melrose konnte es zwar nicht sehen, war aber sicher, daß der böse Bube darauf einhämmerte. Und die Mutter griff bei diesem Krach nicht ein, sondern saß an einem kleinen Tischchen voller Spielkarten vor dem Kamin. Eine weitere Dame hatte auf einer Chaiselongue Platz genommen; es handelte sich um eine attraktive Frau in den Sechzigern, die sich in ein Gesellschaftskleid aus lavendelblauer Seide geworfen hatte.
Die Braine war wirklich eine Orgie in Türkis. Aus der ballonförmigen Jacke hatte sie sich mittlerweile herausgeschält, trug aber immer noch die knapp sitzenden blaugrünen Hosen. Hinzu kam weiterer Zierat: hochhackige Schuhe mit Knöchelriemchen, auch in Türkis; baumelnde Ohrringe aus blauem und grünem Glas, die wie Flaschenscherben aussahen; eine dicke Schicht Lidschatten in Türkis. Das Ensemble war perfekt - nein, doch nicht ganz, denn jetzt steckte Mrs. Braine eine Zigarette in eine türkisfarbene Zigarettenspitze. Melrose setzte seine goldgeränderte Brille auf, betrat das Zimmer und begrüßte die Damen mit einem Nicken. Einen solchen Ausbund an Türkis hatte er noch nie im Leben gesehen. Nur ihre Augen, ihr Haar und ihr Turban, allesamt schwarz, boten dem Auge ein wenig Abwechslung.
Der liebe Malcolm hatte Gott sei Dank für einen Augenblick aufgehört, doch schon schwebten seine Krallen wieder über den Elfenbeintasten. Ein Lächeln huschte über Melroses Gesicht, dann sagte er: »Spiel’s noch einmal, Sam.«
Malcolm verwunderte sich, jedoch nur kurz, dann drehte er sich auf dem Klavierhocker um. »Was?«
»War bloß Spaß. Nein, welch anregende Atmosphäre!« sagte Melrose artig, ging zum Kamin und wärmte sich die Hände.
Die aristokratische Dame in Lavendelblau blickte über den Rand des dünnen Bändchens hinweg (das sie nur zu diesem Zweck liest, dachte Melrose) und taxierte ihn mit schlauem Blick.
Kaum hatte Melrose ihn angesprochen, da rutschte der liebe Malcolm auch schon vom Hocker und verzog sich zu seiner Mum, die Melrose dräuende Blicke zuwarf, ihrem Sohn den Arm um die Schulter legte und ihn mit Koseworten wie »mein Spatz« und ähnlichem bedachte. Malcolm schaute drein, als würde er lieber draußen Hunde quälen.
»Legen Sie eine Patience? Ah, Tarot. Je nun.«
Ramona Braine starrte ihn mit kohlrabenschwarzen Augen an und sagte: »Stier.«
»Wie bitte?«
»Sie. Geboren im Sternkreiszeichen des Stiers. Störrisch, zu Wutanfällen neigend. Aber Sie können auch ein treuer Freund sein. Ich wußte, es würde Ärger geben. Ich habe es
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