Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
daß dieser verlassene Friedhof kaum eine Viertelmeile vom Haus der Citrines entfernt ist. Und bei soviel Beweismaterial stehen Sie da und faseln von einer eventuellen drei- bis vierjährigen Differenz bei der Knochenfuge. «
»Stimmt. Und ich beschäftige mich mit Fakten, Sie mit zusammengestoppelten Beweisen. Sie nehmen all Ihre Informationen zusammen und ziehen daraus Schlüsse. Aber Sie haben eben nicht alle Informationen. Ergo: Fehlschluß«, sagte Dennis gelassen.
Macalvie schüttelte den Kopf wie ein Schwimmer, der sich das Wasser aus den Ohren schüttelt. Er warf Jury, der die ganze Zeit am Tisch gelehnt hatte, einen Blick zu. »Sie haben den Mund noch gar nicht aufgemacht. Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, daß man in diesem Zeitraum dicht beim Haus der Citrines heimlich zwei Jungen und zwei Hunde begraben hat?«
Jurys Augen hingen immer noch an dem winzigen Hundeskelett zu Füßen des Jungen. Vor seinem geistigen Auge lagen sie in Stein gemeißelt wie die Grabfiguren, die er so oft in Kirchen und Kathedralen gesehen hatte. Doch dann fiel ihm ein, wie sie Dennis Dench zufolge gelegen hatten: die Knochen des Hundes hatte man oben auf dem Skelett des Jungen gefunden. Während ein Teil seines Verstandes mechanisch arbeitete und das Problem objektiv betrachtete, war er selbst immer weiter fortgerückt, waren die Gestalten immer matter geworden. Trotzdem hatten seine Ohren alles vernommen, was die anderen sagten. Gleichzeitig aber nahm das Licht ab, als würde es vom Nebel verschluckt. Er bekam kaum noch Luft. Wer von ihnen hatte den letzten Sauerstoff verbraucht? Das Kind? Der Hund? Wenigstens hatte er den Hund dabeigehabt. Obwohl er bezweifelte, daß man ihm den Hund zur Gesellschaft mit ins Grab gegeben hatte.
Wer wußte das schon? Wer wußte schon, was in einem so perversen Hirn vorgegangen war? »Ich mußte an Toby denken«, sagte Jury schließlich und beantwortete damit Macalvies Frage.
»Toby? Toby ist tot. Sie haben den Bericht gelesen.«
»Er war fünfzehn.«
Dennis Dench lachte schroff. »Wäre doch praktisch für mich, oder?«
»Für den Kidnapper war es sicher verdammt praktisch. Der einzige Zeuge stirbt bei einem Autounfall. Wenn das kein Zufall ist.«
»Ist es aber«, sagte Macalvie. »Der Polizei zufolge bestand nirgendwo eine Verbindung zwischen Toby und dem Fahrer des Lastwagens. Der hatte doch tatsächlich am Zebrastreifen gehalten - kaum zu glauben, aber das tun sie wirklich manchmal -, da kam der Junge über die Straße gesaust, als er anfahren wollte. Es war dunkel, es regnete, er wollte ausweichen. Zu spät.«
»Da ist aber noch etwas. Was zum Teufel hatte der Junge in London zu suchen?«
»Er war auf der Flucht. Und wo kann man sich besser verstecken als unter vielen Menschen.«
»Normalerweise flüchtet sich ein Kind nach Haus.«
Macalvie seufzte. »Nicht wenn zu Haus jemand weiß, daß man Zeuge einer Entführung war.«
»Ihre Theorie, Macalvie.«
»Und wie lautet Ihre?«
»Ich habe keine.«
Macalvie stellte sich zu Wiggins, der das auf Originalgröße gebrachte Foto studierte. Er faltete einen alten Zeitungsausschnitt auseinander und legte ihn auf den Tisch neben das teilweise rekonstruierte Foto. Das Zeitungsfoto war keine Aufnahme aus einem Fotoatelier. Es zeigte einen Jungen mit nachdenklichem Blick, der seine Wolljacke wie eine Mönchskapuze über den Kopf gezogen hatte. Er blinzelte. Macalvie betrachtete das Bild kurz, dann sagte er zu Dennis: »Ich würde meine eigene Mutter nicht wiedererkennen, wenn ihre Augen bloß leere Höhlen wären; was dagegen, wenn ich das hier verändere?«
»Ja.« Dennis wollte das kleine Skelett zudecken.
Während er noch redete, hatte Macalvie schon irgendwo ein Stückchen Papier abgerissen, zeichnete mit Blick auf den Zeitungsausschnitt etwas und legte den winzigen Streifen auf das Foto. »Wiggins, Ihren Schal bitte.«
Sergeant Wiggins nahm sichtlich widerstrebend den langen braunen Schal ab wie ein Arzt, der bei einem Patienten nach einer Augenoperation den Verband wechseln will.
Macalvie drapierte den Schal um den Schädel auf dem Foto und kopierte so das Zeitungsfoto. Den Rest des Schals legte er über die linke Gesichtshälfte und kam zu einer zwar undeutlichen, aber doch recht annehmbaren Nachbildung eines Gesichts.
»Also, wenn das nicht Billy Healey ist, dann lehne ich die Beförderung zum Hilfswachtmeister ab.«
Dennis deckte das Skelett des Jungen und des Hundes zu wie eine Mutter beim Gutenachtsagen.
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