Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
hatte, daß die Grube nicht für eine anstehende Beerdigung ausgehoben worden war.
Nur (dachte Jury), daß hier längst niemand mehr beerdigt wurde. Er kniff die Augen zusammen und sah in der Finsternis krumme und schiefe Grabsteine, die unter dem hohen Gras und Unkraut kaum noch auszumachen waren. Es regnete stetig.
Jury hob den Blick vom Grab und bemerkte, daß die alte Mauer genauso zerfiel wie die Mauer rings um das Haus der Citrines in West Yorkshire. Was um alles in der Welt mochte im Kopf der armen Frau vorgehen, die unablässig ein Tor anstarrte, das ebenso Schlagseite hatte wie die Grabsteine und die brüchige Mauer hier? Wie mochte sie sich den Tod ihres Stiefsohns ausmalen?
Daß sie alle Hoffnung, ihn wiederzusehen, hatte fahrenlassen, das war klar. Sie gab nicht auf den kleinen, verfrorenen Obstgarten acht, weil sie auf ein Wunder wartete, darauf wartete, daß der Junge von einem Baum heruntergeklettert kam, in dem er sich versteckt hatte. Die Aura von Hoffnungslosigkeit umgab sie wie Nebel.
Hatte sie sich seinen Tod in den dunkelsten Stunden ihrer Verzweiflung so vorgestellt?
Eine Eule schrie. Da standen sie alle und starrten in die ausgehobene Grube, die sich mit Regen füllte.
Wiggins beschwerte sich nicht über das Wetter.
Melrose hörte, wie auf seinem Nachttisch ein Becher Tee abgestellt wurde, aber er machte die Augen nicht auf. Im Gegenteil, er machte sie noch fester zu, als die Vorhänge an den Holzringen langsam aufgezogen wurden; dann schob jemand das Fenster hoch. Warum um Himmels willen schienen sich alle Leute einzubilden, daß man ohne einen Tee am Morgen nicht in Gang kam? Wenn alle Welt einfach so ins Schlafzimmer spaziert kam, konnte er ja gleich in Liberty Hall nächtigen. Und Schritte hörte er auch nicht, die Person verzog sich nicht. Sie mußte noch im Zimmer sein - die langsamen Atemzüge schienen vom Fußende des Bettes zu kommen -und ihn, den armen Schlafenden, anstarren wie ein böser Geist.
Endlich schlich sich die Person auf Zehenspitzen hinaus, und die Tür fiel leise ins Schloß.
Kurz darauf machte er ein Auge auf, und siehe da, die Sonne schien durchs Fenster herein. Es war ein wunderschöner Morgen.
Als er das Speisezimmer betrat, saßen nur noch Major Poges und die Principessa bei Tisch. Ruby hatte dem Major gerade ein gekochtes Ei serviert. Die Principessa saß mit ihrem Kaffee mehrere Stühle entfernt am anderen Tischende und flötete Melrose ein »Guten Morgen« entgegen.
Ruby hatte streng zurückgekämmtes Haar, einen fahlen Teint und ein Gesicht wie eine Kopfwehtablette. In einschläferndem Ton betete sie jetzt eine recht umfangreiche Frühstückskarte herunter, in der auch Hammelkoteletts vorkamen. Melrose bestellte Tee, Toast und Porridge.
An der Art, wie jemand sein geköpftes Ei in Angriff nahm, ließ sich (so bildete sich Melrose jedenfalls ein) viel über einen Menschen ablesen. Major Poges köpfte seines nicht (wie Agatha), sondern klopfte und klopfte mit der Rückseite des Eierlöffels sanft auf die Spitze und pellte sie ab.
Die Principessa rief von ihrem Tischende: »Wir sind die letzten. Sie jedenfalls. Es ist fast zehn.«
»Miss Denholme wirkt nicht sehr streng, was die Essenszeiten angeht.«
»Auch nicht, was das Essen angeht«, sagte die Principessa, deren Teller, soweit Melrose sehen konnte, vom Gegenteil zeugte. Er war leer. »Sie bietet etwas für jeden Geschmack.« Die Principessa hob das fein geschnittene Gesicht zur Decke und blies eine Rauchwolke aus. An diesem Morgen war sie in rosa Wolle gekleidet und hatte sich ein Umschlagtuch nach Art des Hauses (ihres jedoch in Fuchsrot) um die Schultern gelegt und mit etwas Kostspieligem befestigt, das im Sonnenschein funkelte.
»Und recht nett ist sie obendrein, wenn auch mit einem Hang zur Schwermut. Bei meinem ersten Aufenthalt hier war sie gar nicht da, sie pflegte ihre Schwester - Iris hieß sie, glaube ich. Soviel ich weiß, befürchteten die Ärzte bei ihr eine Fehlgeburt. Ich selber habe nie Kinder gehabt.« Womit sie unterschwellig andeutete, daß sie keine Ahnung hatte, warum alle so wild darauf waren.
»Sie wären allesamt kleine Malcolms geworden.« Der Major löffelte sein Ei aus. »Miss Denholme kommt mir allerdings nicht gerade mütterlich vor, weiß Gott nicht. Warum hat sie nur das Kind aufgenommen? Sie macht sich doch gar nichts aus ihm. Und wenn sie für jeden Geschmack etwas bietet«, sagte er und steckte eine Runde Toast in den Toaster, »wie steht es dann mit Ihrem? Sie
Weitere Kostenlose Bücher