Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
über Stranger waren für Abby Cable bereits eine Parlamentsrede gewesen. Es mußte sich um zwei, vielleicht sogar drei Sätze gehandelt haben. »Also dann, auf Wiedersehen !«
Keine Antwort, obwohl sie sicher gleich hinter der Mauer stand und mit seinem Totschläger Männchen in den Schnee malte.
Dennoch. Man wußte nie, wem man begegnete. Ihm fiel die Gestalt im schwarzen Umhang ein, die mit großen Schritten übers Moor gegangen war. Und außerdem (so redete er sich ein, als er den Stab durch das Loch schob, sich auf den Rücken legte und die Arme ausstreckte, um sich an den Steinen festzuhalten), außerdem konnten sie nicht weit vom Anwesen der Citrines sein.
Guter Gott. Er machte sich flach und schob sich durch das Loch, das nach Schaf roch und voller Schafwolle hing. Dann stand er auf und schüttelte den Schnee ab.
Sie waren gleich hinter der Mauer; Stranger hatte sich eine Seite vorgenommen, Abby die entgegengesetzte. Melrose stapfte an der Schneewächte entlang bis zu der Stelle, wo sie mit dem Totschläger herumfuhrwerkte.
»Nehmen Sie Ihren Stock«, sagte sie.
»Du hast mich doch rufen hören. Warum hast du nicht geantwortet?« fragte er und stieß den Hirtenstab gereizt in den Schnee.
»Sie haben gesagt, Sie gehen nach Haus.« Abby hob die Schultern und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an, so als blendete sie etwas. »Sie sind ja immer noch da.«
Wer sie so reden hörte, konnte sie für eine Hellseherin halten. Was sie erwartete, das geschah.
»Lieber würde ich mich mit dem Hund unterhalten. Hast du ihn als Welpen bekommen?«
»Nein.«
Er seufzte und sah Stranger zu, der die Schneeverwehungen absuchte. »Und wie hast du ihn bekommen?«
»Er kam vorbei«, war die prosaische Antwort.
Der Hund kratzte wie wild und wirbelte Schnee auf wie ein Schneepflug.
»Wenn ein Border Collie verschwindet, der hundert Schafe in einer Wasserrinne zusammentreiben kann, so dürften es die Besitzer merken.«
Das schien Abby nachdenklich zu stimmen. Sie sagte, sachlich wie es ihre Art war: »Vielleicht war es den Leuten egal.« Und als der Hund weiterbuddelte, fügte sie an: »Er hat was gefunden.«
Der Höhepunkt des Morgens bestand für Melrose darin, daß er ein Schaf aus seiner Schneehöhle herauszog und -zerrte. Das Schaf sah nicht besonders mitgenommen aus, als Stranger es aus dem Schnee heraustrieb.
»Und was fangen wir jetzt mit ihm an?«
»Gar nichts. Jetzt wird es allein fertig.« Sie drehte sich um und stapfte weiter übers Moor, wahrscheinlich in Richtung einer neuen Mauer »dahinten«.
Da Fragen nicht weiterhalfen, sie sich nicht auf eine tiefschürfende Unterhaltung über ihr Leben, über Mrs. Healey, über irgend etwas einließ, beschloß er, mit der Tür ins Haus zu fallen, auch wenn das Thema grausig war. Abby Cable hatte zwischen sich und der Welt offenbar eine kleine Mauer errichtet, die das Grauen von ihr fernhielt.
»Schrecklich, was da in dem Gasthaus passiert ist, findest du nicht auch? Muß dich ganz schön mitgenommen haben.« Aber wenn, so ließ sie sich nichts davon anmerken. Ihre Miene blieb genauso steinern wie die Umrisse der fernen Felsnasen am Horizont. »Schließlich ist sie eine Freundin von dir und deiner Tante.«
»Glaub ich nicht.«
»Was glaubst du nicht?«
»Daß sie eine Freundin von Tante Ann ist.« Sie schnalzte kurz, und Stranger, der in weiter Ferne nur noch ein Punkt im Schnee war, machte kehrt und kam zurückgelaufen.
»Ach? Und ich hatte gedacht, Mrs. Healey hätte deine Tante immer besucht.«
»Mich hat sie besucht.«
Ihre helle Wut traf auf ihn wie ein Wind auf der Sturmhöhe, der Schnee vor sich hertreibt und die Bäume beugt. »Billy und Toby waren meine besten Freunde.«
Damit drehte sie sich um und versuchte zu rennen, da sie aber in ihre schwere Kleidung vermummt war, wurde daraus nur ein Gehoppel.
»Ein totes Lamm«, sagte sie, als er sie eingeholt hatte. Sie stand still da und betrachtete das Lämmchen mit den angezogenen Beinen. Eine geraume Weile starrte sie es an, dann schaufelte sie, sachlich wie immer, Schnee darüber.
»Hör mal, laß es für heute morgen genug sein mit Tod und Verderben.«
Aber sie folgte dem Hund bereits die Mauer entlang. Der Wind blies jetzt so stark, daß sich die Fichten drüben im Gehölz bogen. Was für ein gräßliches Fleckchen Erde; was für ein gräßliches Wetter. Wenn Cathy Earnshaw versucht hatte, aus dem Himmel herauszukommen, nur um hierher zurückzukehren, wie kalt mußte es dann erst dort oben
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