Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
sein? Melrose blickte hoch und dachte sehnsuchtsvoll an den Pub, der nicht weit entfernt sein konnte.
Wärme! Licht! Gastlichkeit! Ja, das Bild, das er heraufbeschwor, war der Inbegriff der Gemütlichkeit; ein rundlicher, zuvorkommender Wirt; freundliche Stammgäste an der Bar; dunkles Bier; polierte Fichtenmöbel; schimmerndes Messing, rosiger Lichtschein hinter Sprossenfenstem ...
Um Himmels willen, wo war sie? Zischend fegte der Wind über den Schnee und riß kreiselnde Schneefahnen hoch. Er sah sie und Stranger weit hinten am Ende der Mauer und verwunderte sich, warum ihn das erleichterte. Er rief. Keine Antwort.
Aber er war es mittlerweile gewohnt, ihre Anweisungen zu befolgen; also ging er den beiden entgegen und stocherte mit dem verdammten Stab aufs Geratewohl in den Verwehungen herum; fast freute er sich schon darauf, ein Schaf an einer Stelle zu erwischen, wo es richtig weh tat. Ha! dachte er, als er endlich auf Widerstand traf. Geschafft! Er ging in die Hocke und wollte den Schnee mit den Händen wegschaufeln, die sicherlich schon unrettbar erfroren waren. Er legte eine Stelle mit schmutzigem rosa Schnee und einen schwarzen Ärmel frei und kam sehr rasch hoch.
Der Ärmel war steif gefroren, die Finger der herausragenden Hand gebogen, als wollten sie irgend etwas festhalten. Vielleicht das Leben. Da stand er mit zusammengekniffenen Augen und starrte die gefrorene Hand an wie Abby das erbarmungswürdige tote Lämmchen.
Aus ihm selbst unerfindlichen Gründen hielt er nach dem Motorrad Ausschau, fürchtete, daß es schwarz und glänzend an die Bruchsteinmauer gelehnt stand.
Er hatte Ellen nicht mehr gesehen; keiner hatte Ellen gesehen, seit sie gestern abend vor dem Hintergrund des dunklen Himmels und des silbrigen Stausees auf der Zufahrt verschwunden war ...
Dieses Bild, das wußte er, würde ihn bis an sein Lebensende verfolgen. Wutentbrannt schaufelte er Arm und Gesicht frei.
Ann Denholmes Augen standen offen, waren zum Teil mit Schnee gefüllt. Das Gesicht blickte zum Himmel, und was er von dem dunklen Haar sehen konnte, stand vom Kopf ab und war grau bereift, als wäre es durch einen furchtbaren Schreck über Nacht weiß geworden. Ihr Mantel war steif gefroren, doch als er ihren Arm etwas anhob, war das kalte Handgelenk schlaff.
Melrose blickte nach rechts und sah, daß Abby und Stranger sich langsam an der Mauer entlangarbeiteten. Rasch deckte er die Tote wieder zu.
Zwar hatte er alles zertrampelt, aber er hoffte, der Schnee würde das Werk seiner Hände und die Witterung von Blut verbergen. Es ging nicht an, daß das arme Kind (denn das war sie jetzt für ihn) die Leiche der Tante entdeckte.
Beim Näherkommen senkte Stranger den Kopf und nahm die Fährte auf. Melrose tat, als rutschte er aus, und ließ sich auf die Tote fallen. Hoffentlich überdeckte seine Witterung ihre.
Stranger, da war er sicher, konnte den Tod riechen. Dieser Hund ließ sich nicht täuschen.
Abby legte den Kopf schief, schüttelte ihn dann langsam und warf dem Obertolpatsch einen äußerst geringschätzigen Blick zu. Sie sah Stranger an, machte einen leisen Laut, und der Hund hielt inne.
Beide standen jetzt wie angewurzelt einen halben Meter von Ann Denholmes Schneegrab entfernt.
Wie zum Teufel sollte er sie von hier weglocken? Und nicht nur das, wie gelangte er entweder zum Gasthaus oder zur Telefonzelle hinten an der Oak Road?
Melrose kam hoch und versuchte, Zeit zu gewinnen, zog und zupfte an seinem Mantel und ordnete mit den (gewiß schon brandigen) Fingern das steifgefrorene Haar. In Gedanken spielte er eine List nach der anderen durch und verwarf sie allesamt wieder. Schließlich sagte er: »Ich kann einfach nicht mehr. Wir müssen zurück.« Wie geschwollen sich das anhörte.
Als ob es etwas genützt hätte. Abby stand da, in einer Hand den Hirtenstab, in der anderen seinen Totschläger, die sie beide wie Krücken in den Schnee gestoßen hatte. Und der verdammte Hund schien ihn hypnotisieren zu wollen. Melrose schwirrte der Kopf.
»Na, dann gehen Sie doch«, sagte der kleine Krüppel mit gerunzelter Stirn.
»Gut, gut.« Melrose machte einen Schritt und blieb jäh stehen, so als wäre ihm gerade etwas eingefallen. »Ach, übrigens, ich weiß, wo Ethels Versteck ist.«
Einsundzweiunddreiundvier zählte er im Gehen ab.
Bei vier schossen die beiden an ihm vorbei, schoben sich durch das Loch und waren auch schon in Richtung Oakworth Road verschwunden, daß der Schnee hinter ihnen nur so
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