Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
schon einer hier?«
»Zwei. Die haben alle möglichen Fragen gestellt. Einer war beinah so groß wie Sie. Der hat mich gefragt, ob ich Rock-Musik mag.« Wieder dieser abwartende Blick. Er mochte größer sein, aber war er auch schlauer?
»Das kann man doch wohl sehen, oder?« Keinerlei Zustimmung. »Ich stelle auch nicht viele Fragen.«
»Tun sie doch alle.« Sie hielt immer noch das aufgerollte Poster umklammert, und Jury sah, daß es mittlerweile Flecken von ihren schweißigen Handflächen hatte. »Aber sagen tun sie einem nie was. Außer daß Tante Ann eine Art Unfall hatte.«
Die Worte kamen gemessen und wohlgesetzt heraus, so als wären sie mit dem Schleifstein geschliffen. Sie hatte festgestellt, daß man sie anlog.
In der Scheune herrschte Schweigen, das nur von der Kuh unterbrochen wurde, die in ihrem Stall mit den Füßen scharrte.
»Sie muß ihre Medizin haben«, sagte Abby rasch, denn mit der kranken Kuh konnte sie gut vom Thema ablenken. »Sie können zusehen.«
»Manchmal muß ich auch nach Mr. Nelligans Schafen sehen.« Ein rascher Blick zu Jury, ob der auch glaubte, daß ein Kind schon Tiere verarzten konnte.
»Wer ist das?«
Abby entstöpselte eine Flasche und stieg vom Schemel. »Er wohnt in einem alten Wohnwagen draußen auf dem Moor. Er kümmert sich überhaupt nicht um sie.« Sie hob das Poster vom schmutzigen Fußboden auf. Jury musterte die beiden Türen zu den leeren Ställen. Auf einer klebte ein Poster von Mick Jagger, auf der anderen Dire Straits.
»Ich leg das bloß weg«, sagte sie und ging zu einem alten Kabinenkoffer. Dort hockte sie sich hin und klappte die angelaufenen Messingschließen auf, hob den Deckel und legte das Poster behutsam hinein. Aber sie kam sofort wieder hoch und ließ mit zorniger Miene den Kofferdeckel fallen. »Wir hier trinken jetzt Tee«, sagte sie und ging zum Kamin, wo der Collie mittlerweile mit ausgestreckten Pfoten neben einem größeren Hund lag und jede Bewegung, die Jury machte, mit argwöhnischem Blick verfolgte.
Jury lächelte verhalten, denn mit »wir« meinte Abby offenbar sich und die Hunde.
»Sie können was abhaben«, sagte sie, ohne sich jedoch anmerken zu lassen, ob sie seine Gesellschaft nun freute oder nicht.
»Danke.« Und während sie feierlich den Tisch deckte, sagte Jury nichts; wahrscheinlich würde er ihren Gedankengängen doch nicht folgen können, denn die kamen ihm so verheddert vor wie das Bindfadenknäuel in ihrer Tasche.
Jury betrachtete die Scheunenwände ringsum. »Hast du aber nette Poster und Fotos.«
Erst goß sie den Tee auf, dann sagte sie: »Das Katzenposter ist von Ethel«, und zeigte dabei auf eins, dessen Ecke sich aufrollte, weil die Reißzwecke fehlte. Jury hatte das Bild schon öfter gesehen - ein beliebtes und kitschiges Idealbild von Kindheit: ein kleines Mädchen mit bauschigem, weitem Rock, das auf seinem Schoß eine Schüssel mit Milch hielt. Ihr Grübchenlächeln galt einer Reihe von mageren Kätzchen, die geleckt und geschleckt wirken sollten, aber nur auf ihr Fressen zu warten schienen.
Dabei mußte Abby ihr Hund eingefallen sein, denn sie griff nach einem Emaillekrug und goß Milch in eine Blechschüssel neben dem Feuer. Der Collie machte sich eifrig darüber her. »Sie hat es mir nur geschenkt, weil sie findet, daß sie dem Mädchen ähnlich sieht. Ethel hat auch so rote Locken. Und so weiße Haut.« Abby zog ihre Wangen mit den Fingern auseinander und sah mit ihrem herzförmigen Gesichtchen auf einmal wie eine Witzblattfigur aus. »Sie hat ein rundes Gesicht«, sagte sie, so gut das mit breitgezogenen Lippen ging. »Ethel ist meine beste Freundin. Wie finden Sie sie?« fragte sie und wartete auf die Urteilsverkündung. Daß Jury und Ethel sich noch nicht kennengelernt hatten, stellte für Abby anscheinend kein Problem dar. Ihre Beschreibung und das Bild mußten genügen.
Er betrachtete das Bild noch einmal, legte den Kopf schief und sagte: »Sie sieht klebrig-süßlich aus. Und sie macht den Eindruck, als würde sie die Milch aus der Schüssel der schwarzen Katze, die sich in ihr Kleid krallt, liebend gern über den Kopf schütten.«
»Haarscharf Ethel«, sagte Abby und entfernte sich.
Jury betrachtete dieses Ende der Scheune: die Ecke mit dem Kinderbett und der Kiste mit dem Bücherstapel und den Comic-Heften. »Darf ich mir mal deine Bücher ansehen?«
»Ja«, rief sie zu ihm hinüber. »Aber nicht Jane Eyre.«
»Nein? Wieso denn nicht?«
»Nur wenn Sie’s mögen, daß Ihnen schlecht
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