Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
festhielt, merkte er, daß sie offenbar anderer Meinung war. »Ob Sie die Suppe noch mal kurz umrühren würden?«
Gleich vor der Doppeltür zur Scheune saß ein schwarzweißer Collie und witterte in die Abendluft. Er blickte Jury neugierig an, unternahm aber nichts, außer daß er sich umdrehte, sich ihm an die Fersen heftete und ihm folgte.
Die Sonne war schon fast untergegangen und malte Rechtecke auf den Boden, die sich bis zur Mitte der Scheune erstreckten. Die große Tür an der gegenüberliegenden Seite war fest geschlossen, die Ritzen waren mit Stoff abgedichtet. Zu seiner Linken, hinten im Schatten, lag der Stall, von wo er Geraschel und das leise Muhen einer Kuh hörte. Vor der Wand mit dem Kamin stand ein Tisch mit nicht zueinanderpassenden Stühlen. Unter einem kleinen Fenster befand sich ein alter Ausguß.
Am anderen Ende der Scheune, dem Kuhstall gegenüber, stand ein Kinderbett. Die umgedrehte Kiste daneben diente als Ablage für Bücher und einige Schallplatten, und daneben thronte ein Plattenspieler, der noch älter war als sein eigener daheim. Am Fußende des Bettes erblickte Jury auf einem niedrigen Schemel unter schwarzem Tuch einen Karton, der etwas größer als eine Schuhschachtel wirkte. Auf der Kiste stand eine kleine Stehlampe, deren Schein durch den oben offenen Lampenschirm fächerförmig auf den unteren Teil eines gerahmten Drucks, ein Haus inmitten dunkler Bäume, fiel. Der ist in einer Scheune genauso fehl am Platz, dachte er, wie die vergilbten Reisefotos von Venedig (lieber Himmel, er mußte unbedingt Vivian anrufen!) und die Ansicht einer Küste von Cornwall, wo schaumgekrönte Wogen gegen Klippen anbrandeten. Dazwischen ein leerer Fleck mit Kaugummiklumpen, so als hätte dort ein weiteres Bild gehangen. Venedig und Cornwall waren verblichen, doch der junge Elvis wirkte wie neu.
Das kleine Mädchen kam aus dem Dämmer des Kuhstalls und rollte ein Poster auf, das sie sich an den Leib drückte. Sie machte das bedächtig und feierlich. Zwar tat sie so, als bemerkte sie den Fremden in ihrer Scheune nicht, und hielt den Blick fest auf ihre Arbeit gerichtet, aber er spürte, daß sie um seine Anwesenheit wußte.
»Hallo«, sagte Jury.
Keine Antwort; sie war ganz bei der Sache, rollte, hielt inne und schob die Enden wieder hinein. »Ich nehme Ricky Nelson ab.«
»Den Sänger, meinst du?«
Der dunkle, immer noch gesenkte Kopf nickte. »Er ist tot.« In ihrem Ton lag etwas, das jede sentimentale Bemerkung über den Trost, den man in Andenken findet, im Keim erstickte. Sie blickte zur Feuerstelle, wo ein neues Poster lag, der obere Rand mit einem Hammer, der untere mit einem schlafenden Hund beschwert. Die Ecken rollten sich nach innen. »Dafür hänge ich die auf.«
»Die« waren die Mitglieder der Band Sirocco, und ganz gleich, ob sie sich mit Ricky messen konnten oder nicht, sie waren zumindest lebendig. So jedenfalls schien sie die Sache zu sehen. Es handelte sich um das Poster, das er vergrößert in einem Schallplattenladen am Piccadilly Circus gesehen hatte. Eine ziemlich spröde und gekünstelte Pose, wie dieser Charlie Raine da als Mittelpunkt an einem kahlen Baum lehnte, während die vier anderen in verschiedene Richtungen in die unwirtliche Landschaft blickten.
Ricky Nelson war vor einigen Jahren gestorben, doch es schien Jury, als habe Abby gerade erst bemerkt, daß aus ihrer Vergangenheit - die wirkte wie ein aus Geschehnissen zusammengestoppeltes Stückwerk, das ihr andere vermacht hatten - noch etwas anderes verlorengegangen war. Ihre wild zusammengesuchte Kleidung paßte auch ins Bild; das schmuddelige weiße Umschlagtuch hing ihr vom Rücken bis zu den Knöcheln, darunter trug sie einen Pullover mit Zickzackmuster und einen braunen Wollrock, der bis zum Rand der alten Stiefel reichte.
Aber als sie den Kopf hob und Jury grimmig anblickte, staunte er über ihre Schönheit. Ihre Augen waren tiefblau, so blau wie das Meer vor Cornwalls Küsten nie sein würde. Aus einer Tasche unter dem Umschlagtuch zog sie etwas heraus, das wie ein verheddertes Bindfadenknäuel wirkte, fand ein Gummiband und schob es sorgsam über das Poster. Dann richtete sie den blauen Blick auf ihn, schien auf etwas zu warten.
»Soll ich dir helfen, das da anzubringen?«
Natürlich ließ sie sich von einem derartigen Hilfsangebot nicht täuschen. »Sie sind wohl auch so ein Polizist.«
Unter ihrem blauen Blick kam er sich eher wie ein Verdächtiger vor. Er lächelte vorsichtig. »Dann war also
Weitere Kostenlose Bücher