Grimes, Martha - Inspektor Jury geht übers Moor
wird.«
Jane Eyre wirkte trotz ihrer übelkeitserregenden Eigenschaften recht zerlesen. Er blätterte das Buch durch und sah lauter Eselsecken. Es handelte sich um einen alten, schweren Band mit Illustrationen.
»Das hier ist besser«, sagte sie, kniete sich hin und zog das schwarze Tuch von dem Karton, der einst Stiefel enthalten haben mußte. Sie hob den Deckel hoch und holte einen schmalen Band heraus. »Das hat mir Mrs. Healey geschenkt. Ihre Tante hat’s gebracht. Sie hätte lieber selber kommen sollen.«
Es war der Gedichtband, den Nell Healey bei ihrer Begegnung in der Hand gehalten hatte. Das gleiche Buch wie in Billy Healeys Zimmer. Er blätterte es durch. Die gleichen Unterstreichungen, die gleichen Randnotizen. »Sieht mir aus, als wäre es eines ihrer Lieblingsbücher gewesen.«
»Ist es auch.« Sie nahm es ihm weg, legte es in den Karton zurück und deckte alles mit dem schwarzen Tuch wieder zu.
Jury runzelte die Stirn. »Warum bewahrst du es da drin auf?«
»Das ist ein Versteck. Kommen Sie.« Sie stand auf und zupfte an ihm, der immer noch in der Hocke saß.
»Und warum ist über dem Karton ein schwarzes Tuch?«
»Das ist für Busters Beerdigung. Sie ist tot.«
Sie? »Dein Haustier?«
»Meine Katze.«
Dieses Kind war wirklich faszinierend. »Hast du sie begraben?« Abby schien vom Tod umgeben.
»Noch nicht. Kommen Sie schon.«
Bei Tisch sah er ihr zu, wie sie Milch in ihre Tasse goß und vier Teelöffel Zucker hinzufügte. Sie schenkte ihm die gleiche Menge Milch ein, und auch er bekam seine vier Teelöffel Zucker. Auf Jurys Becher war ein Bild der Kathedrale von Winchester.
Abby hob den Kopf und blickte stur geradeaus. Jury folgte ihrem Blick. Sie zupfte an ihrem Umschlagtuch und starrte auf die Nische mit dem Bett, die Kiste mit den Büchern, vielleicht aber auch auf den Druck im festen Rahmen.
»Woher hast du den, Abby?«
Sie wandte den Blick ab. »Von Billys Mama. Mrs. Healey.« Jetzt sah sie ihn an. »Ihr habt ihn einfach nicht gefunden.«
Ihr Blick besagte nicht, daß sie ihn persönlich dafür haftbar machte. Aber er war Polizist und mitverantwortlich für das, was seine Kollegen versiebt hatten. »Ich weiß.«
»Er ist weg. Er ist tot. Er ist mein Freund gewesen, und Toby auch. Wir haben viel bei ihm zu Hause gespielt. Sind auf Bäume geklettert.«
In dem kargen Obstgarten. Doch damals konnte sie nicht älter als drei oder vier gewesen sein.
»Jetzt schicken sie mich sicher auf die Lowood School«, sagte sie und setzte sich kerzengerade hin. Schon wollte er den Mund zu einer Antwort aufmachen, doch sie ließ ihn nicht. »Also, wenn die sich einbilden, ich bin so blöd wie Jane Eyre, dann haben sie sich aber geschnitten. Mir hängt keiner ein Pappschild um den Hals.« Sie kniff die Augen zusammen und ihr Mund wurde schmal, als spielte sich die schreckliche Szene direkt vor ihren Augen ab. »Und wenn die sich einbilden, sie könnten mich dazu kriegen, daß ich wie die blöde Helen andauernd im Regen rumlaufe -« Sie schoß Jury einen Blick zu. »Stranger steht vor der Mauer und holt mich raus. Ich laufe jedenfalls nicht hustend durch den Regen.«
Jury musterte den Collie, der mit gespitzten Ohren dasaß und witterte. »Der Hund da sieht so schlau aus, als könnte er jeden rausholen.«
Abby räumte die Teller ab. »Bloß nicht Jane Eyre. So schlau ist keiner. Der ist nicht zu helfen.« Und sie hielt die Tasse, als wöge sie einen Zentner.
»Wie Ethel«, sagte Jury. Es zuckte um ihre Mundwinkel.
Jury betrachtete den Druck auf der gegenüberliegenden Wand. Es war so groß, daß man die Einzelheiten gut erkennen konnte. »Dein Bild gefällt mir.«
Sie deckte Teller auf und sagte: »Ist auch mein liebstes.« Sie betrachteten es gemeinsam und schwiegen dazu, bis sie sagte: »Wieso ist es unten bei dem Haus und den schwarzen Bäumen dunkel, wie wenn es Nacht ist, und oben blauer Himmel, wie wenn es Tag ist?«
Jury sagte kopfschüttelnd: »Ich weiß auch nicht so recht.« Ihre Miene besagte, er solle sich lieber etwas Besseres einfallen lassen.
Dann posaunte sie: »Es ist wie eine Kirche.«
»Ich verstehe nicht, was du meinst.«
Abby beugte sich vor. »Der hohe Baum da sieht wie ein Kirchturm aus.«
Er legte den Kopf schief und starrte das Bild an. »Nein, finde ich nicht.« Er spürte ihren Blick von der Seite und hörte, wie ihr Stuhl zurückgeschoben wurde. Dann marschierte sie um den Tisch herum und baute sich direkt vor ihm auf. »Ein Kirchturm«, wiederholte sie, hob
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