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Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht

Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht

Titel: Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Schulbüchern hing ihm schwer am Arm, der Regen floß ihm in Strömen von der Jacke. Er konnte sich nicht dazu bringen, den Fuß über die Türschwelle zu setzen.
    Pfeifend hatte er drei Stufen auf einmal genommen, eine Drehung oben um den Pfosten vollführt, sicher, daß sie sich freuen würde, wenn er so überraschend und unerwartet auftauchte. Das würde sie nicht verbergen können. Aber dann käme das obligatorische Seufzen und Kopf schütteln. »Nicht schon wieder, Alex? Sie haben dich doch nicht schon wieder nach Hause geschickt?«
    Nun ja, sie wußten beide, daß er ein weiteres Mal nach Hause geschickt worden war, aber die Spielregeln erforderten, daß sie sich höchst überrascht zeigte angesichts der Tatsache, daß der Direktor wahrhaftig noch einen Grund gefunden hatte, Alex heimzuschicken. Natürlich würde ein Brief über die Sache mit dem Rose and Crown folgen.
    Und natürlich würde Alex demütig, beschämt und bekümmert zugeben, daß er ihr Geld und seine Zeit vergeudete. Und da sie (hatte er gedacht, als er pfeifend den Flur entlangging) es nie über sich brachte, ihn in sein Zimmer zu schicken, ohne ihn vorher mit einer üppigen Mahlzeit vollzustopfen, hatte er ganz heroisch vorher nur einen Kanten Brot und ein Glas Milch zu sich genommen. Es gab Zeiten, wo er sich regelrecht wünschte, daß seine Mutter ein bißchen strenger auf Disziplin achtete, denn er war es leid, sie sich immer selbst aufzuerlegen. Aber so war’s nun einmal; nach Ansicht seiner Mum war er unfähig, etwas Unrechtes zu tun (ganz egal, wie oft er nach Hause geschickt wurde).
    Den fatalen Schritt über die Schwelle tat ein anderer Alex. Er mußte sich in zwei teilen, nur so konnte er sich davon abhalten, das Haus zusammenzuschreien oder sich auf die Chaiselongue zu werfen, wo sie lag. Der eine Alex zog sich nach innen, in eine Glasglocke, zurück und gestattete sich, in tiefe Wasser abzutauchen.
    Der andere Alex ging langsam auf das abgeschabte grüne Damastsofa zu, den Rucksack mit den Büchern schleifte er immer noch mit. Wie kam es, daß er sofort gewußt hatte, daß sie nicht einfach nur schlief? Von der dreieinhalb Meter entfernten Tür aus konnte er doch nicht gesehen haben, wie blaß ihre Haut war oder daß sich ihre Brust nicht mehr hob und senkte.
    Er wußte es, weil in einem gewissem Sinne ihr Atmen auch sein Atmen war. Er wußte es, weil er seit achtzehn Stunden eine panische Angst unterdrückte, seit er nämlich am frühen Morgen aus einem Alptraum aufgewacht war - das Bettzeug war so klatschnaß gewesen wie jetzt seine Haare und seine Regenjacke. Der Traum war unkompliziert und flog so schnell vorüber wie die Vögel, die darin vorkamen: Er hatte das Gemälde unten im Haus gesehen, die Kopie eines Van-Gogh-Gemäldes, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte, ein Bild mit schwarzen Vögeln, die über ein Feld fliegen, auf das sich die Dämmerung senkt. Als er aufwachte, lag er schweißgebadet da. Vor dem Frühstück hatte er versucht, sie anzurufen. Keine Antwort. Daran war nichts Ungewöhnliches, sagte er sich während des gesamten Frühstücks immer wieder. Er saß in dem lauten Eßsaal, starrte in seine Schüssel Porridge und rührte darin herum. Der Traum hing ihm nach wie ein schwarzes Schiff, wie die schwarzen Vögel. Er war immer sehr rational gewesen; er hatte nie verstanden, warum er zu komplexen, bilderreichen Träumen neigte. Träume waren keine bösen Vorzeichen (hatte er sich eingeredet).
    Während ein Teil von ihm in der dunklen Stille der Glasglocke sicher verwahrt blieb, stand der andere in der Mitte des Zimmers, die Augen starr, tränenlos. Er begriff nicht, wie er sich so in zwei Hälften teilen konnte; vielleicht war das ein »Schock«.
    Alex schämte sich beinahe, daß der eine Teil funktionierte, daß diese Hälfte imstande war, ohne mit der Wimper zu zucken, dahin zu sehen, wo seine Mutter auf der Chaiselongue lag. Er nahm das verschnörkelte alte Muster des Bezuges und jeden Knick, jede Falte ihres schwarzen ChiffonSamt-Kleides wahr.
    Ihr bestes, ihr Lieblingskleid. Kein Schmuck. Schwarze Lackschuhe standen nebeneinander auf dem Boden, als hätte sie sie gerade anziehen wollen oder aber sie gerade abgestreift, um sich vor dem Ausgehen noch ein bißchen hinzulegen. Bestimmt hatte sie ausgehen wollen, warum sonst trug sie ihr schwarzes Kleid? Sie hatte ausgehen wollen oder vielleicht ein paar Leute dagehabt. Seine Mutter hatte selten Leute da.
    Sein Blick wanderte zu dem kleinen

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