Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht
den er mochte, war sein Urgroßvater. Bei den restlichen Familienmitgliedern wurde ihm speiübel.
»Tut mir leid, sie ist nicht mehr.«
Ein dünner Krankenpfleger in Weiß stand über ihm und vermied es, das Wort tot zu benutzen. Alex sah nicht auf.
»Sie sind ihr Sohn? Der, der angerufen hat?«
Er nickte.
»O Gott«, stieß der Typ aus. Hinter der randlosen Brille sah Alex das Mitleid. Daß ein Kind nach Hause kam und seine eigene Mutter so fand. Der Mann, vielleicht unfähig, Alex’ unverwandtes Vor-sich-hin-Starren weiter zu ertragen, drehte sich gestikulierend zu den anderen um.
Eine junge Frau trat auf ihn zu.
Alex kämpfte mit dem anderen Ich, das verzweifelt aus der Glasglocke herauswollte, sich hin und her warf, auszubrechen und in den dunklen Wassern zu schwimmen versuchte. Alex warf einen Blick auf die Dame, die (o nein!) sich hinkniete , und tat alles, sie wegzuhypnotisieren. Er hätte sie mit seinem Blick geradewegs in die ewige Verdammnis befördern sollen, aber sie kniete einfach nur da.
»Jetzt müssen wir uns um dich kümmern, mein Junge.«
War sie von Sinnen? Er sagte nichts.
». wen sollten wir anrufen? Wo ist denn dein Vater?«
Nichts.
Dann leicht ungeduldig: »Deine Großeltern? Sonst jemand? Wo wohnt deine Familie?«
Er dachte einen Moment nach. »Wir haben keine. Es gibt keinen.«
Für sie eindeutig absurd. Es gab immer irgend jemanden. »Aber gewiß . « Und jetzt dachte sie nach, dachte über die Familie nach, die sie wie neue Möbel hereinschleppen konnte. Wenn es keine gab, würde sie eine auf die Beine stellen, zack, zack, »... doch Cousinen, Cousins? Tanten? Onkel? Außerhalb Londons?«
Das würde die Polizei früh genug herausfinden. Warum sollte er der hier helfen?
»Nachbarn«, quasselte sie weiter. »Ja, Nachbarn. Die heute nacht hierbleiben könnten. Oder du könntest zu ihnen gehen.« Sie beugte sich vor, legte die Hände auf seine Arme. »Jemand vom Sozialamt könnte vorbeikommen -«
Sein anderes Ich schrie, kreischte. Aber er hielt den Taucher unten, unversehrt. »Niemand kommt vorbei. Und nehmen Sie Ihre Scheißhände von mir weg. Sie sind nicht meine Mutter.«
Zunächst war ihm danach, der Polizei ganz und gar aus dem Weg zu gehen. Dann fiel ihm ein, daß sie dann eine Suche anleiern würden.
Deshalb blieb er. Er wollte ihre sinnlosen Fragen nicht beantworten, und er wollte ihr Mitgefühl nicht. Der Polizist, der ihn befragte, stellte sich mit sanfter, schüchterner Stimme als Detective Inspector Kamir vor. Er war Inder und hatte braune Augen, die zu schmelzen schienen und jeden Augenblick von den Tränen überzufließen drohten, die Alex nicht vergoß.
Es war also eine Überraschung, daß Sie von der Schule nach Hause gekommen sind. Ich meine, es wäre eine gewesen, fügte er entschuldigend hinzu.
Je nach Frage nickte Alex oder schüttelte den Kopf. Der Polizist nahm an, daß er unter Schock stand. Den Luxus konnte Alex sich nicht leisten: sein Verstand mußte
weiterarbeiten. Nach den Fragen zu schließen, hatte die Polizei keinerlei Informationen über seine Mutter beziehungsweise würde ihm, Alex, sowieso nicht glauben, wenn er den Beamten auf den Kopf zusagte, daß sie unrecht hatten.
Worauf das alles hinauslaufen sollte, wußte er, als sich die Fragen allmählich auf den »psychischen Zustand« seiner Mutter konzentrierten. War sie, hm, in letzter Zeit deprimiert gewesen? ... hatte er etwas gemerkt?
Daraufhin sah er ruckartig hoch und starrte in die traurigen braunen Augen des Inspector. Mr. Kamir zog entschuldigend die Schultern hoch und fragte ihn noch einmal: Wußte Alex, hatte er gemerkt, ob seine Mutter deprimiert gewesen war?
Hatte er etwas gemerkt? Natürlich hatte er was gemerkt, er war ihr Sohn. Aber dann dachte Alex an seine Freunde in der Severn School. Er wußte, die meisten hatten keinen blassen Schimmer, was in den Köpfen ihrer Eltern vorging, und es war ihnen auch einerlei. Die Eltern waren ja großteils genauso desinteressiert.
Er sah wieder nach unten. Er erzählte dem Detective Inspector nicht, daß seine Mutter depressiv war. Du wärst auch depressiv, wenn dir die Familie Holdsworth im Nacken säße.
Kamir beharrte nicht auf allzu vielen weiteren Fragen, denn der Junge war erst sechzehn, und er war ihr Sohn, und er hatte die grauenhafte Erfahrung hinter sich, seine Mutter tot aufzufinden.
Statt dessen wandte der Polizist sich dem Problem zu, wer sich um Alex kümmern sollte. Zu wem sollte der Junge gehen? Zum Vater? Alex
Weitere Kostenlose Bücher