Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht
mußte, warum dann nicht mit Coleridge? Wahrscheinlich, weil er so etwas Dämonisches hatte. Southey hingegen war ein Gentleman.
Madeline betrachtete die unzähligen Reihen Bücher. Wunderschön in geprägtes Leder gebunden, standen sie so ordentlich in Reih und Glied, daß Melrose sich fragte, ob sie überhaupt gelesen wurden. »Crabbe hat versucht, Southeys Bibliothek exakt zu kopieren«, sagte sie. »Die Bibliothek des Richters war sein ganzer Stolz und seine ganze Freude, und er haßte es zutiefst, wenn jemand darin herumfuhrwerkte, besonders Wordsworth, der Bücher verschlang . «
Madeline Galloways Stimme verlor sich, es mangelte ihr deutlich an Interesse für das Thema. »Verzeihung, aber ich habe bemerkt, wie Sie das Bild meiner Schwester angesehen haben.« Sie griff danach. »Ich sollte Ihnen etwas erzählen, denn es wirft einen düsteren Schatten über das Haus. Sie ist tot; es ist vor drei Tagen passiert.«
Melrose stellte sein Glas vorsichtig wieder auf das Tablett. »Mein Beileid. Jetzt verstehe ich, warum Sie lieber nicht - mir ist unbegreiflich, warum Mr. Holdsworth keine Zeit hat.«
Als sie ihn ansah, standen Tränen in ihren Augen. »Meinethalben muß es Ihnen nicht leid tun. Es ist alles - sehr kompliziert. Sehr.«
Die Stimme wurde wieder leiser, sie hielt das silbergerahmte Bild in der Hand. »Es ist schrecklich. Eine Überdosis Barbiturate.« Rasch fügte sie hinzu: »Es muß ein Unfall gewesen sein. Aber die Polizei gibt die Leiche nicht frei - erst wird eine Obduktion gemacht.« Sie hielt inne. »Ich nehme an, bei ungeklärten Todesfällen ist das immer so.« Ihre feingliedrige Hand umklammerte die Sessellehne, und sie sah Melrose an, als könnte er ihr die Ungewißheit über die möglichen Ursachen des Todes ihrer Schwester nehmen.
»Ich glaube, das ist Routine, ja.«
Während des nun folgenden kurzen Schweigens betrachtete er Madeline Galloway genauer und fand sie in einem konventionellen Sinne ziemlich hübsch. Mit ihren großen Augen und dem dunklen, von einem Samtband zurückgehaltenen Haar sah sie ein wenig kindlich aus, nicht uninteressant, aber sie war eine Frau ohne klare Konturen. Sie machte nicht den Eindruck, als hätte sie einen starken Willen, obwohl ihre etwas zurückhaltende Art eine bloße Attitüde sein mochte, die sie den Holdsworths zuliebe an den Tag legte. Es war merkwürdig, daß sie an einem Ort bleiben wollte, der sie ständig daran erinnern mußte, welche Demütigung sie hier erfahren hatte.
»Die Polizei war da. Ich verstehe nicht, wieso das eine Angelegenheit für die Polizei ist.«
Melrose zuckte mit den Schultern. »Auch Routine, nehme ich an.«
Als sie sich jetzt zu ihm herumdrehte und ihm direkt in die Augen sah, revidierte er seine Meinung, daß sie kein Rückgrat habe. »Das glaube ich nicht.«
Sie vergaß ihr eigentliches Anliegen und sprach über ihre Schwester, deren so frühzeitigen Tod, den Sohn, die ganze Tragödie.
»Ja, wirklich«, sagte eine männliche Stimme. Melrose wandte sich um und sah einen großen, dünnen Mann ins Zimmer kommen, den Kopf über ein kleines Buch gebeugt. Er wurde ihm als Mr. Crabbe Holdsworth vorgestellt, Melroses zukünftiger Arbeitgeber.
Crabbe Holdsworth setzte sich auf das kleine Sofa ihnen gegenüber, legte das Buch aber nicht aus der Hand. »Verheerend, dieser Tod«, sagte er und ließ das Buch zuschnappen. »Ja, und so jung.« Ohne recht hinzusehen, nahm er die Porzellanfigur, starrte sie an, stellte sie zurück. Da Madeline sich mit dem neuen Bibliothekar offenbar schon bekannt gemacht hatte, glaubte Mr. Holdsworth, eine ausführlichere Vorstellung seinerseits sei überflüssig, und verfolgte seinen Gedankengang weiter: »Er war erst zwölf.«
Melrose und Madeline wechselten ratlose Blicke, was Crabbe Holdsworth nicht entging. »Henry. Southeys Sohn.« Er deutete mit einem Kopfnicken auf das Buch.
War der Mann wirklich so dämlich? fragte sich Melrose. So dämlich und unsensibel? Madeline erhob sich rasch und legte die Hände auf den Kaminsims, als würde sie Crabbe schlagen, wenn sie sie nicht anderweitig beschäftigte. »Wir haben von Jane gesprochen, nicht von Southey.«
»Oh. Oh. Ich bitte vielmals um Verzeihung.« Sein Blick wirkte eher verblüfft als bekümmert, als bemühte er sich, diese »Jane« richtig einzuordnen. Nein, offenbar wußte er über die »scheußliche Angelegenheit«, wie er sie bezeichnete, Bescheid. »Scheußlich«, wiederholte er und drehte sich zu Madeline um, die sich zu ihrem
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