Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht
eine Seite des Kalenders über Unsere herrliche Seenwelt um und versuchte sich zu entscheiden, wo sie noch eine ertrinkende Gestalt hineinwerfen sollte. Sie nahm einen Aquarellstift aus der Büchse auf dem riesigen Arbeitstisch und studierte Wast Water. Diese See war am tiefsten. Nein, den hob sie ja nun für Mrs. Holdsworth auf. Sie schlug die Februar-Seite auf. Derwentwater. Da war schon Schwester Rübe drin: Am Ufer, halb verborgen vom Farn im Vordergrund, schauten ihre Schuhe aus dem blauen See heraus.
Millie blätterte den März um und sah sich den April an: Buttermere! Das war’s! Der paßte genau zu ihm, denn sein Haar hatte eine sattgelbe Farbe. Na ja, nicht so gelb wie Osterglocken. Rechts waren jede Menge sich wiegende Büschel davon zu sehen. Wenn William Wordsworth (dessen Namen sie langsam nicht mehr hören konnte) so ein großer Dichter war, warum mußte er dann diese alten, abgenutzten Zeilen schreiben?
Als Millie den Stift anleckte, um die Mitte des Buttermere-Sees mit einem halbmondförmigen Kopf zu krönen, schrie Mrs. Callow aus der Anrichtekammer: »Millie, hast du die Beignets gemacht?«
»Ja«, schrie Millie zurück, den Stift in der Hand. Eine glatte Lüge.
»Du weißt, wie sehr Mr. Holdsworth Schmalzgebäck mag!« Millie streckte der Anrichtekammer die Zunge heraus. Von dort erklangen das laute Gekicher der Köchin, wie sie fälschlicherweise genannt wurde, und ein paar hervorgepreßte Lacher, die wie Wildentenschreie klangen, von Mr. Hawkes, dem sogenannten Butler. In dem Satz über das Schmalzgebäck hatten sie bestimmt etwas Anzügliches entdeckt. Sie hatten gut reden, denn sie hatten sich den Portwein aus dem Keller geholt, tranken da drinnen und überließen es (wie üblich) ihr, das Abendessen zu kochen und den Tisch zu decken. Mr. Hawkes würde natürlich die Cocktails hineintragen - das konnte er gut - und verkünden, daß serviert sei; das konnte er auch gut, selbst wenn er um neunzehn Uhr dreißig immer schon längst einen sitzen hatte.
Noch hatte ihr Stift das Papier nicht berührt. Beim Buttermere-See war sie ein wenig unschlüssig. Sie seufzte und sah sich den August an. Patterdale. Das war ihr Lieblingssee; der klang nach Regen und den Regentropfendichtern. Aber den hatte sie für sich selbst reserviert, und so konnte sie ihn nicht für ihn benutzen.
»Millie! Denk dran, mehr Austern als Hammelfleisch in die Pastete zu tun!« Diesem Befehl folgte ein leises Gemurmel, das von einem Huch! und dem Zerbrechen von Glas unterbrochen wurde.
Sie schenkte sich die Antwort und schlug den September auf. Dove Cottage. Sie hielt sich die Nase zu und blätterte zum Februar zurück. Dabei fiel ihr Blick auf den dunklen Himmel über Coniston Water, den Nebel und die tiefen Wolken, den zart schimmernden, zinngrauen See. Nicht schlecht. Aber Buttermere paßte besser zu ihm.
»He, ich rieche keine Beignets, Fräuleinchen!«
Das war der Ort für ihn. Und hier war ein Stückchen Poesie, das sie liebte:
Seine blitzenden Augen, sein wallendes Haar.
»Es ist ja noch nicht mal sechs, und sie müssen heiß sein. Jetzt zähle ich aber sowieso erst mal die Austern ab.« Leise vor sich hin summend, dachte sie über ihr Lieblingsgedicht nach. Es stimmte. Er hatte »blitzende Augen«. Sie waren so grün wie das Gras am Buttermere-See, wo die Osterglocken sprossen. Mit einem goldenen Stift malte sie ein bißchen wallendes Haar und dachte dann: Es wäre eigentlich ungerecht, die blitzenden Augen nicht reinzumalen. Sie nahm einen giftgrünen Aquarellstift aus der Büchse und feuchtete ihn an. Gesichter konnte sie nicht gut, das wußte sie, der Kopf hatte also etwas Schlagseite. Sie tupfte ein leuchtendgrünes Auge und eine Menge goldenes Haar auf das Blatt. Dann runzelte sie die Stirn. Er ging unter, und sie kannte ihn eigentlich gar nicht. Sie warf den Goldstift hin, nahm einen normalen Bleistift und zog schnell einen Arm und eine Hand aus dem Wasser.
Da schlug eine größere Hand klatschend den Kalender zu. »Hab ich’s mir doch gedacht! Dachtest wohl, ich wüßte nicht, daß du überhaupt nichts machst?«
Millie rutschte in ihrem Stuhl zurück, als Mrs. Callows Schatten über den Kalender fiel und die Gestalt von Mr. Hawkes im Türrahmen hing, ein Glas Portwein in der Hand.
»Das wollen wir uns doch mal genauer angucken -«
»Nein!« Mit einem Ruck zerrte Millie der Köchin den Kalender aus der plumpen Hand.
Mrs. Callow wich zurück und steckte ein paar Haarsträhnen, die sich aus den Wellen
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