Grimes, Martha - Inspektor Jury gerät unter Verdacht
Jahren angestellt hatte, ihn davon abhalten würde, ans Ende der Straße zu gelangen. Er wollte die Karten abschütteln. Und wie durch Zauber lösten sie sich, er breitete sie wie einen Fächer aus und ließ sie fortfliegen. Die Bildseiten waren leer, alle leer, bis auf eine: die Herzdame. Sein Herz wurde zu Eis, und als er seine Mutter ansah, war ihr Gesicht in eine Art Kapuze gehüllt, zu einem steifen Lächeln verzerrt - die Herzdame.
Die Karten wirbelten wie Konfettifetzen auf den Horizont und das immer noch blaßbunte Licht zu, und seine Hand, seine beiden Hände, waren leer. Alex schrie.
Und vor Angst, daß er schrie, wachte er auf; er bewegte die Hände vor sich und versuchte, die Dunkelheit zu durchtrennen wie ein Schwimmer das Wasser, und er war so naß, als hätte man ihn in einen der Seen geworfen. Sein Herz hämmerte; er schnappte nach Luft, in die Ecke der Hütte gequetscht, überlegte er, ob irgendwo ein Telefon wäre, um seine Mutter anzurufen.
Nun geschah, was er befürchtet hatte. Das volle Bewußtsein kam zurück und damit die Realität. Er schloß die Augen fest, legte die Hände über die Ohren und wußte, er würde auch in Wirklichkeit schreien. Die gläserne Glocke war vom Grund des Sees schließlich doch an die Oberfläche gekommen, und da war er, unvorbereitet, nicht gerüstet. Bevor ein tierischer Laut seine Lippen erreichte, hörte er ein Rascheln und schlug die Augen auf.
Der Blick aus den leuchtendgrünen Augen von Millie Thales Kater nagelte ihn sozusagen an die Wand. In dem Blick lag eine Botschaft. Die Botschaft war Nein.
Alex entspannte sich langsam. »Hallo, Hexer.«
Der Kater blinzelte träge.
Millie hatte ihn vor fünf Jahren gefunden. Oder besser gesagt, der Kater hatte Millie gefunden. Unten am Wast Water war er plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht; sie hatte ihn mit traurigen Augen angesehen, er hatte dagesessen, als erwartete er jemanden. Später hatte sie den Eigentümer des Katers gesucht (so halbherzig, daß Alex lächeln mußte), ihn aber nicht gefunden.
Er hieß Hexer. Das erzählte sie Alex, als hätte der Kater selbst es ihr mitgeteilt.
Trotz der (nicht sehr heftigen) Einwände von Mr. Hawkes hatte Millie Hexer behalten. Hawkes kümmerte sich eigentlich um nichts, es sei denn, man kam ihm bei irgendwas in die Quere. Hexer pflegte Hawkes und Mrs. Callows nur in die Quere zu kommen, wenn er bei ihren »Besprechungen« in der Anrichtekammer unvermittelt auftauchte. Dann bekam er einen gehörigen Fußtritt, aber Fußtritte machten den Kater nur noch sturer. Aber der einzige Mensch, auf den er etwas gab, war ohnehin Millie.
Alex schaute auf die Uhr und stellte fest, daß er den ganzen Nachmittag geschlafen hatte. Er sah noch einmal hin und bemerkte, daß auch ein neuer Tag war. Es war Donnerstag. Donnerstag. Er hatte vierundzwanzig Stunden geschlafen. War seit gestern abend durch seinen langen, langen Traum geglitten. Hexer hatte ihn aus der Bewußtlosigkeit herausgestarrt und war offensichtlich zufrieden, daß Alex wach war. Er legte sich hin, die Vorderpfoten unter der Brust. Aber er starrte immer noch.
Kein Wunder, daß ich Hunger habe, dachte Alex, schaute in seinen Rucksack, fand aber nichts als ein paar Wispa-Riegel. Er schlug das kleine schwarzlederne Telefonbuch seiner Mutter auf, das sie immer in der Nachttischschublade aufbewahrt hatte, weil sie Angst hatte, es zu verlieren, und es deshalb nicht bei sich tragen wollte: alle Namen und Nummern der Leute, die sie kannte, standen in diesem kleinen Buch. Die Polizei hatte nur das gefunden, das sie immer bei sich hatte. Darin waren die Nummern, die sie am häufigsten wählte. Es hatte keine Geschichte.
Er betrachtete jeden einzelnen Namen. Ein paar waren ihm nicht geläufig, wahrscheinlich Leute, mit denen sie irgendwann in all den Jahren mal zusammengearbeitet hatte. Die Verwandten standen alle drin. Die Nummer von Castle Howe, wo sein Urgroßvater die meiste Zeit verbrachte. Ihre Freundin, die Ärztin Helen Viner. Ein Maurice Kingsley, den Alex nie kennengelernt hatte. Ein paar unbekannte Namen, nicht weiter wichtig, irgendwelche Bekannte vermutlich. Sein Direktor. Ach ja, sein Direktor. Zweimal unterstrichen. Die Namen von zwei weiteren Lehrern - Mathe und Geschichte -, die Alex nicht zu ihren Lieblingsschülern zählten. Hatten sie seine Mutter angerufen? Egal. Am Ende (und nicht unter dem richtigen Buchstaben J) war ein neuer Name eingetragen. Sie hatte blaue Tinte benutzt; sonst nahm sie immer Schwarz.
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