Grimes, Martha - Mordserfolg
hatte es sehr wohl gegeben!
Und dann die gelegentlichen Besuche bei seinen wohlhabenden Verwandten in Sewickley. Sie waren sehr stolz und sehr streng, und sie hatten Dienstboten. Es waren die Broadwaters, und man redete von ihnen in einem Ton, als wäre »Broadwater« ein vornehmes Landgut. Ned erinnerte sich an den Tisch im Speisezimmer mit dem Summer an der Unterkante, mit dem Isabel Broadwater die Haushälterin verständigte, die sodann den nächsten Gang auftrug. Er entsann sich besonders jenes Abendessens, als der Summer nach der Suppe gedrückt worden, aber niemand mit dem Lammbraten erschienen war. Isabel Broadwater hatte sich ungeheuer aufgeführt und allen Essensgästen streng untersagt, hinauszugehen und den Braten zu holen. Plötzlich kam die Köchin händeringend herein, um ihrer Herrin die schreckliche Nachricht zu überbringen, die Haushälterin sei gestorben – als sie den Lammbraten heraustragen wollte, sei sie zu Boden geglitten. »Und das Lamm?«, hatte Isabel mit gestrengem Blick gefragt.
Mary-Anne, ihre schreckliche zehnjährige Tochter, hatte auf diese Nachricht mit Begeisterung reagiert. Mary-Anne war immer begeistert vom Missgeschick anderer. Die Dienstboten standen unschlüssig herum, der Arzt traf ein, die arme Haushälterin wurde gleich an Ort und Stelle für tot erklärt. Wahrscheinlich das Herz. Man hatte die Tote in irgendeine Leichenhalle geschafft, wo eine Autopsie stattfinden würde. Oben in Neds Dachkämmerchen hatte Mary-Anne jedoch später steif und fest behauptet, die Haushälterin sei ermordet worden und alle hätten ihn, Ned, im Verdacht.
Mary-Anne gefielen Neds Besuche, denn sie boten ihr die Gelegenheit, ihn herumzukommandieren oder mit ihrem neuesten Spielzeug anzugeben – einer Barbiepuppe oder einem Federballspiel. Ned brachte seine Baseballkarten mit und hätte so gern von Jackie Robinsons wundersam sausendem Schläger erzählt oder von damals, als Willie Mays einen in die Luft geschlagenen Ball mit der bloßen Hand gefangen hatte, oder von Maseroskis unglaublichem Home Run bei den Meisterschaftsspielen 1960. Ach, wer das gesehen hatte! Wer damals gelebt hatte und auf dem Forbes Field dabei gewesen war! Aber Mary-Anne machte sich bloß lustig über ihn und seine Karten. Sie erinnerte ihn immer daran, dass er ja ein Waisenkind war. An der Geschichte mit seinen toten Eltern und dass er verwaist war bedauerte sie nur eines, nämlich die Tatsache, dass nicht sie es gewesen war, die ihm die Mitteilung von ihrem Tode überbracht hatte.
Er sagte, es würde ihm gar nichts ausmachen, denn er sei ein Isaly und könne so viel kostenloses Eis bekommen, wie er wollte. Ein Pech, dass es in Sewickley kein Isaly’s gab! Sonst könnte er ihr ein kostenloses Eis in der Tüte besorgen. Das ärgerte Mary-Anne, doch ihr fiel nichts ein, wodurch sie ihn von dieser Überzeugung abbringen konnte.
Trotz Mary-Anne und ihren hochnäsigen Freundinnen mit ihrem herablassenden Lächeln hatte Sewickley etwas Tröstliches, denn es war schön dort. Die Kastanien und Eichen mit ihren flammendroten und kupferfarbenen Blättern seitlich der breiten Straßen, die riesigen Häuser im viktorianischen und Kolonialstil, umgeben von leuchtend smaragdgrünen Rasenflächen und üppigen Lorbeerbüschen, das Schwimmbad im Countryklub, das kleine Lichtspieltheater, das sie an Samstagnachmittagen besuchten, die Gesellschaftsspiele am Kaminfeuer. Ja, Sewickley hatte etwas Tröstliches.
Ned stand da und dachte über Tröstliches nach.
Inzwischen fiel der Schnee, weich und verträumt, in großen Flocken, die man mit der Zunge auffangen konnte. Das tat Sally, während sie an der Bushaltestelle stand, und der Schnee haftete an ihrem künstlichen blonden Haar. Sie stand auf der anderen Straßenseite etwas entfernt von der Stelle, an der Ned stand und das Gebäude betrachtete. Was war es? Sie war es allmählich leid, dort zu stehen und so zu tun, als wartete sie auf einen Bus. Davon würde sich keiner hinters Licht führen lassen (falls jemand sie beobachtete), denn es waren bereits vier Busse gekommen und wieder abgefahren, ohne dass sie in einen eingestiegen wäre.
»Scheiße, merkt dieser Spinner eigentlich nicht, dass es schneit wie verrückt?« Candy packte seine Daunenjacke fester um den Hals und zog die Kapuze ins Gesicht.
Es war eigentlich nicht richtig kalt, durch den Schnee kam es einem nur so vor. Die Sonne schien immer noch, nachdem sie sich am späten Nachmittag in all ihrer Pracht gezeigt hatte.
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