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Grimes, Martha - Mordserfolg

Grimes, Martha - Mordserfolg

Titel: Grimes, Martha - Mordserfolg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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meisten Gegenstände im Zimmer im Blick hatte. Die Dinge hier kamen ihm gar nicht vergänglich vor. Im Feuerschein und Lampenlicht wirkten sie wie überkrustet, versiegelt gegen den Zahn der Zeit.
    »Du weißt mehr über die Vergangenheit als ich. Du hast ihren Code geknackt. Ich erkenne diese Leute manchmal gar nicht.« Saul stach mit seiner Zigarre in die Luft.
    »›Ihren Code geknackt‹? Schön wär’s. Gestern konnte ich überhaupt nicht schreiben. Drei Stunden lang habe ich buchstäblich kein Wort zu Papier gebracht. Die Geschichte spielt in Paris, aber ich muss dauernd an Pittsburgh denken.«
    »Pittsburgh… fand ich eigentlich immer eine recht mysteriöse Stadt.«
    Ned lachte. »Das ist das Letzte, was mir dazu einfällt. Wieso?«
    »Ach, weil sie sich immer wieder neu erfindet. Weil sie schön wird, nachdem sie lange so hässlich war. Habe ich zumindest gelesen.«
    »Kann schon sein. Jedenfalls war damit mein Schreibprozess ganz schön abgewürgt. Was machst du, wenn du nicht schreiben kannst? Ich spitze meine Bleistifte ganz scharf. Wenn ich damit fertig bin, sind es tödliche Waffen.«
    »Jamie behauptet ja, wir können immer schreiben. Wie zum Teufel sie es schafft, all die Bücher, all die unterschiedlichen Genres, weiß ich auch nicht. Ich laufe umher, nehme Sachen in die Hand – Silberschalen, Porzellanteile – und sehe nach, ob unten der Stempel drauf ist und authentisch aussieht.« Saul blies einen Rauchring und durchstieß ihn mit dem Finger.
    Ned stand auf, um sich noch einmal die Bilder anzusehen, die beiden kleinen von Sauls Großmutter. Wie seine Großmutter war Saul die sanftere Ausgabe seiner scharf dreinblickenden, gebieterischen männlichen Vorfahren. Saul schätzte sich glücklich, dass er sie in der Kindheit noch erlebt hatte. Er war fünfzehn, als sie starb, und sogar da war sie noch jung, erst Ende Fünfzig. Sie hatte Sauls Mutter recht jung bekommen – die zurückhaltende Mutter. Ihr Tod (hatte Saul gesagt) hatte das gesamte Haus und alle seine Bewohner wie ein Schlag getroffen.
    Ned war bisher nie aufgegangen, dass Saul mit »allen« eigentlich nicht seinen Großvater (den mit dem Ziegenbärtchen) oder seinen Vater (mit dem frostigen, gemalten Lächeln) meinte, sondern sich selbst. Der Gedanke brachte Ned ziemlich aus der Fassung. Es erschütterte ihn, denn er hatte sich den jugendlichen Saul ganz anders vorgestellt – reserviert und distanziert, schon damals ein Schriftsteller, der nichts und niemandem traute, was nicht seinem eigenen Geist entsprungen war. Weil seine Mutter und sein Vater ihn mehr oder weniger sich selbst überlassen hatten, ging Ned davon aus, alle anderen hätten es ebenfalls getan. Oder es sei zumindest Saul so vorgekommen. So war es aber nicht.
    Er wandte den Blick von den beiden ovalen Bildern und fragte: »Denkst du oft an sie, an deine Großmutter?«
    Saul nahm die Zigarre aus dem Mund. Versunken betrachtete er das verkohlte Ende, wie diese seltsamen Nachtfalter, die in ihrem unersättlichen Drang nach Licht langsam mit ihren Flügeln vor dem Feuer schlagen. »Die ganze Zeit«, erwiderte er.
    Ned musterte ihn wieder verwundert. Er wäre nicht auf die Idee gekommen, dass Saul so in der Vergangenheit verhaftet war. Wieso eigentlich, fragte er sich dann, wieso wäre er nicht auf die Idee gekommen? In The End of It ging es doch genau darum, um den überwältigenden Verlust, den der strenge, ernste Erzähler erleidet. Tatsächlich hätte dieses Buch nur einer schreiben können, der sich nicht vom Verlust eines Menschen – oder sogar einer Sache – erholt hatte und sich nie erholen würde. The End of It . An dieser Stelle kam Ned nicht weiter und fragte sich, ob darin vielleicht die Erklärung lag, weshalb Saul den Roman, an dem er die ganze Zeit gearbeitet hatte, nicht zu Ende bringen konnte.
    »Sie nannten sie Ossie, ihr richtiger Name war Oceana. Sie besaß dieses gewisse Quantum an guter Laune, das die anderen täglich einnehmen mussten. Obwohl man sehen konnte«, sagte Saul, »dass es ihnen wie Blei auf der Zunge lag.« Er sah Ned an. »Woran denkst du gerade?«
    Ned zuckte bloß die Achseln. Er wollte nicht verraten, was er gedacht hatte, denn er hatte noch nicht genau genug darüber nachgedacht. Keiner von beiden neigte dazu, Plattitüden von sich zu geben. Auch kamen keinem beim Schreiben irgendwelche großartigen Erleuchtungen. Jede Seite, jeder Absatz, die aus »Offenbarungen« hervorgegangen schienen, kam ihnen verdächtig vor.
    Saul stand auf.

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