Grimes, Martha - Mordserfolg
hab erst ungefähr fünfzig Seiten gelesen. Es ist total abgefahren. Klingt wie Sciencefiction.«
»Wie Philip K. Dick?«, fragte Karl. Das war der einzige Autor, von dem Candy schon einmal gehört hatte. Seltsamerweise hatte er an Philip K. Dick einen Narren gefressen.
»Nein, nein, nein. Ganz anders als dem sein Zeug. Nein, in Giverneys Buch ist eine ganze Welt zusammengebrochen. Alles um diese eine Figur, also um diese Frau, hat sich plötzlich verändert.«
»Anomie.« In Anomie versunken . Er müsste einen Orden kriegen!
»Von mir aus. So ziemlich am Anfang geht sie also in diese Drogerie – nein, das ist heute nicht mehr das richtige Wort, weil sich alles verändert hat. Heute würde man sagen, in so eine altmodische Apotheke mit Imbissecke. Sie parkt ihr Auto, und wie sie aussteigt, sieht sie, dass die anderen Autos alles lauter Oldtimer sind. Sie hat einen neuen Lexus, und die anderen sehen aus wie direkt aus den vierziger und fünfziger Jahren, ein Chevy Belair beispielsweise, in den zwei typischen Farbtönen. Als sie die Apotheke betritt –«
In dem Moment blieb ein mageres Mädchen – oder eine Frau –, in der Hand zwei Bierflaschen, an ihrem Tisch stehen und musterte Candys umgedrehte Baseballkappe und Sonnenbrille. »Das ist ja so was von gestern, ey.« Ihre Bierflaschen schwenkend, ging sie davon.
Karl lachte. »Ich hab’s dir gesagt.«
Candy sah zwischen dem Mädchen und Karl hin und her. »Wenn die wüsste, dass sie mit ihrem Leben spielt.«
»Weiter.«
»Okay, sie geht also in die Apotheke rein, und alles ist anders. Statt lauter Glasregale und Chrom gibt’s dunkle Holzpaneele und diese bunten Flaschen, die in solchen Apotheken immer auf der hinteren Verkaufstheke aufgereiht standen, Bechergläser heißen die. Und der Typ, der Apotheker – also, da wird die Geschichte noch unheimlicher und komplizierter. Es ist nämlich noch derselbe, den sie kannte, selber Name, selber Mensch, bloß dass er anders angezogen ist, du weißt schon, irgendwie altmodischer. Er erkennt sie, ruft sie beim Namen – sie heißt Laura – und fragt nach ihrem Kind. Der tut so, wie wenn nie was gewesen wär –«
»Ist das etwa nicht wie bei Philip K. Dick?«
»Nein! Hab ich doch gesagt, es ist nicht wie bei ihm. Es ist eher wie – wie heißt der Typ, die Sendung damals mit den vielen Folgen über Leute, die in ihrem alten Heimatort auftauchen, wo plötzlich alles verändert ist?«
»Rod Serling. Rod Serling – wie hieß gleich die Sendung? Egal, erzähl weiter.«
»Und dann geht sie weiter in die Boutique nebenan.
› Im Schaufenster hingen Kleider an kopf- und armlosen Schaufensterpuppen, Kleider, die in den dreißiger oder vierziger Jahren vielleicht einmal modisch gewesen waren. Ein Faltenrock, das Tupfenkleid mit kleinen, angeschnittenen Ärmeln –‹«
»Oh Mann«, sagte Karl. »Soll das jetzt gruslig sein oder sind wir im Modeviertel in der Seventh Avenue?« Karl zwirbelte seinen Zahnstocher in den anderen Mundwinkel. »Obwohl, wenn ich mir’s recht überlege, die Seventh Avenue ist ja doch ganz schön gruslig, ich meine, wenn man seinen Shit dort liefern muss.«
»Er beschreibt doch bloß die Stimmung , Mann! Sie schaut also rein und sieht eine Frau, Miss Fleming, der der Laden gehört:
› Miss Fleming sah aus wie immer. Nein, nicht ganz. Ihr Haar war anders frisiert, im Nacken zu einem Dutt geschlungen –‹«
Karl rutschte tiefer in seinen Sitz. »Na los, C., komm schon zum grusligen Teil.«
»Aber das ist doch gruslig, wenn man mal überlegt. Dass alles bloß ein kleines bisschen verändert ist, gerade so viel, dass man denkt, vielleicht ist sie diejenige, die sich verändert hat.« Candy lehnte sich zurück, hoch zufrieden mit seiner Analyse. »Okay, das mit dem Schönheitssalon lass ich weg –«
»Oh bitte.«
»Sie fängt an zu laufen.
› Dabei sagte sie sich, nur keine Eile. Sie zwang sich dazu, alle Häuser anzusehen, an denen sie vorbeikam, und war erleichtert, dass alle vertraut aussahen. Bis auf dieses Haus im maurischen Stil, mit der nischenartig nach hinten versetzten Tür und dem reich verzierten Vordach –‹«
»Was zum Teufel ist maurischer Stil? Ich bin ja mit modernem und viktorianischem Stil und dem ganzen Scheiß schon bedient.«
Der Schriftsteller am Nebentisch sah zu ihnen herüber. Karl wollte schon etwas Markantes sagen –»Verpiss dich!«, beispielsweise –, als er merkte, dass der andere sie gar nicht ansah, sondern durch sie hindurchschaute. Er war in
Weitere Kostenlose Bücher