Grimms Erben
ist Natur pur. Bergquellwasser erster Güte. Bayern ist schön, auch Japan ist gut zu uns.
»Ned då«, hören wir den Berghüttenwirt überrascht aufheulen. »Des is da Kuahtrog. Ia miassts no ums Eck rum. Då is des Trinkwassa.«
Olsen und ich kucken wie Kühe, denen man Skischuhe anzieht.
»Noch einige Meter weiter«, bemüht sich der bayrische Asiat im staksenden Gang durchs hochdeutsche Dickicht. »Dort findet ihr Trinkwasser.«
Kuhtrog? Olsen schneidet angeekelte Grimassen. Ich denke, was uns nicht umbringt, macht uns hart, habe dann aber doch Krankheiten wie Ruhr, Diarrhoe oder sonst was Tödliches vor meinem geistigen Auge.
Ein lustiges Wassergeklimper weist uns den Weg zur von frischem Quellwasser gespeisten Tränke. Ein Holzfass, in das wir unsere leeren Trinkgefäße gleiten lassen. Japaner übernehmen die alpine Versorgung. Ein Umstand, der für den Stammtisch im Brandtner Hof reicht.
Ich vergewissere mich anhand eines geschulten Blickes auf meine Wanderkarte, ob die SALZHüTTE auf unserer Route liegt, oder ob wir diese schon längst unbeabsichtigt verlassen haben. Eingezeichnet ist sie nicht.
»Suachts ia aa de Mandlhütte?« Der Asiat bedient den Fotoapparat, während er diese Frage stellt.
»Wie bitte?« Olsens Gesicht sieht aus wie eine Dörrzwetschge.
Nun versucht der Hüttenbesitzer wieder einen für uns verständlichen Dialekt anzunehmen.
»Ob ihr auch auf der Suche nach der Mandlhütte seid?«
»Warum?«
»Weil vor einer Stunde einer danach gefragt hat. Ein seltsamer Wandersmann im olivgrünen Anorak. Also bevor ihr auch fragt, ich kenn die Hüttn nicht. Kann aber sein, dass es sie gibt – nur ist sie dann bestimmt nicht bewirtschaftet.«
Mandlhütte? Ich bemühe mich erst gar nicht, die Hütte auf meiner Wanderkarte zu suchen.
Die Bergwelt ist eine gefährliche Welt. Wir waren noch nie in ihr. Ihr Regelwerk ist uns fremd. Wir haben kein Training in der Bewältigung der Vertikalen. Unsere Muskulatur flucht hanseatische Beschimpfungen. Wir geben vegetative Befehle.
Weiter, immer weiter!
Hinauf!
Vorbei an Wäldern und Feldern. Wiesen und Gestein. In der Höhensonne glitzert Steinstaub. Riesige Findlinge liegen seit Ewigkeiten auf grünem Teppich. Erosion, Kontinentalverschiebungen und bohrendes Gletscherwasser sind die bildenden Künstler dieser dreidimensionalen Gemälde. Schroffe Felsen hier, mit Baumwipfeln bedeckte Gipfel weiter unten. Reißerische, forsche Steilwände, die in hölzernen Kreuzen enden und die höchsten Punkte jeder Bergwelt markieren, weiter oben. Wir sind ermattet durch den Aufstieg und die abertausend Eindrücke, die die Landschaft für uns bereithält. Unsere schwerbepackten Rucksäcke drücken uns wie hässliche Gegner zu Boden. Aber es sind unsere Freunde. Ohne sie geht es nicht. Deswegen dürfen sie weiter huckepack.
Braungefleckte Kühe rufen uns zu, ihre schweren Glocken bimmeln ein langsames Alpenstück und kehren die Trägheit der Tiere noch deutlicher nach außen. Trotzdem: Für Personen, die nicht täglich mit ihnen in Kontakt treten, erreichen diese Nutztiere einen angsteinflößenden Umfang. Ich starre geradewegs auf unseren Pfad der Tugend, der uns Richtung Tajatörl leiten soll. Nie dem Feind ins Antlitz blicken. Dann lässt er einen gewähren.
Hier und da werfe ich ein ungeschultes Auge auf die Wanderkarte. Eine einzige Kryptologie – unklare Linien, Kreise, Kreuze und Farben.
Ich weiß nicht, wo wir sind, behalte es aber vorerst für mich.
»Olsen!«
Ich entdecke einen Adler. Es ist ein Falke, aber egal.
»Ein Adler. Sieh doch. Wahnsinn!«
Olsen schreckt auf, schreit auch »Olsen!« Es geht ihm offenbar schlecht. Sein Zeigefinger kann allerdings der Flugbahn des Raubvogels folgen.
»Ist ein Adler nicht größer?«
Ich reagiere nicht und hoffe, seine Sinne schwinden wieder ein wenig, damit er meine Gaukelei nicht bemerkt.
»Joseph? Ist ein Adler nicht größer?«
Olsen schirmt seine Augen vor der Sonne ab. Ich persönlich glaube nun, dass es ein Bussard ist, sage aber zu Olsen:
»Es ist ein kleiner Adler. Ein junger.«
Ich will ihn aufbauen.
»Der König der Lüfte. Wahnsinn, Olsen, oder?«
Ich bin mir nun sicher, es ist eine Krähe.
Seit vier qualvollen Stunden sherpasieren wir einen Wanderweg Steigung für Steigung nach oben. Nun in Begleitung des deutschen Wappentiers, wie Olsen denkt. Neue Kraft breitet sich aus, und die Erkenntnis: Die Bergwelt ist eine wunderbare Welt. Eine Welt voller Geheimnisse und Mythen.
Warum und
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