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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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wie lange liegt dieser mannshohe Fels neben uns auf dem Weg? Er gleicht einem riesenhaften Mann, der eine Rübe in der Rechten hält. Das Gestein steht dort auf der geringstmöglichen Fläche balancierend. Gott spielt David Copperfield, falls man diese illusorische Welt aus Stein der Entstehungsgeschichte zuschreiben will.
    An welchem Tag schuf Gott die Alpen?
    Welche Präparate hatte er dazu eingenommen?
    Wir könnten seinen Sohn fragen, der plötzlich, an ein Holzkreuz genagelt, vor uns steht. Der Heiland hat, offenbar dank der guten Bergluft, eine gesunde Hautfarbe, die Wundmale scheinen verheilt und sein Gesichtsausdruck ist eher aus höhenluftiger Zufriedenheit geschnitzt als aus Leid, Qual und Erlösung. Zu seinen Füßen liegen gepflückte Butterblumen, als wären sie vor wenigen Minuten dort abgelegt worden. Neben dem Kreuz hängt eine Holztafel. Auf ungelenk gemaltem Gemälde fährt ein Blitz aus einer dunklen Wolke. Er endet im Kopf eines Mannes, der die Arme ausbreitet und sehr traurig ausschaut. Neben ihm liegt eine graue Axt.
    Am 5. Augusto anno 1808 fand just an dieser Stelle der Waldarbeiter Josef Kreuzpointner zu Bichlbach den Tod durch Blitzschlag. Der Herr sei seiner Seele gnädig.
    Ob ein Blitzschlag größere Kopfschmerzen verursacht als Obstbrand?
    »Herr Jesus, wie lange ist es noch bis zum Drachensee?«
    Ich frage aus reiner Neugier, erwarte keine Antwort. Meine grüne Lieblingstruckerkappe mit dem Aufdruck »Ferien in Wallnau« halte ich in meinen gefalteten Händen. Olsen, der langsam, aber festen Schrittes neben mir erscheint, schüttelt verschwitzt seinen Kopf.
    »Manchmal ist der wie vernagelt.«
    Ich weiß, Olsen kommt dafür in die Hölle.
    Von der Hölle sind wir bei aller Schönheit nicht allzu weit entfernt. Das Zusammenspiel von Gut und Böse, von Himmel und Hölle ist nirgends greifbarer als hier im Alpenland. Steht man auf einem Gipfel, noch dazu einem imposanten, kratzt man mühelos ans Himmelsgewölbe. An Gottes Zelt. Lässt man sich in der Höllentalklamm, deren Einstieg sich in Grainau befindet, nach unten führen, klopft man an des Belzebubs Hallen. Ob sich die beiden Supergegner des Katholizismus hier ab und an tatsächlich zu einem Stelldichein treffen?
    In der Mitte?
    Zum Beispiel in der Salzhüttn?
    Zum Schafkopfen?
    Eine gesellige Viererrunde der Heiterkeit und Spielsucht. Gott hat Petrus im Kartengepäck, der Teufel bringt Zerberus, den Höllenhund, mit. Vier Spieler. Vier Bier. Ein 32er Blatt. Sie spielen einen humanen Tarif- oder einen humaniden.
    Sauspiel – halbe Menschenseele.
    Solo – ganze Menschenseele.
    Laufende – viertel Menschenseele.
    Mit Legen. Schuss. Kontra. Re. Und allem, was dramaturgisch Wind macht.
    Bei Bier und durch Herz Wenz und dergleichen werden die Verblichenen den zukünftigen Aufenthaltsorten zugeteilt. Brisant:
    Petrus sagt: »Weida.«
    Zerberus sagt: »Weida.«
    Teufel sagt» Weida.«
    Gott sagt: »Guad. Spui.«
    (Da wir uns auf Bayernland befinden, gehe ich davon aus, dass die Protagonisten Dialekt sprechen.)
    Nachdem anerkennend genickt wurde, sagt Gott: »Mit da Oache Sau.«
    Petrus sucht mit Eichel-Acht. Zerberus gibt Eichel-König dazu. Teufel legt Eichel-Sau auf den Tisch. Gott streicht mit Eichel-Zehn ein. Das bedeutet: Gott und Teufel müssen in diesem Spiel gemeinsam um Punkte beziehungsweise Seelen kämpfen. Doch abgerechnet wird zum Schluss. Das Ableben der Menschheit ist vorherbestimmt. Nicht aber der Aufenthaltsort danach. Wer also beim Seelenschafkopf mit Gewinn heimgeht, kann in baldiger Zukunft mit Zuwachs in seinem Reich rechnen.
    Sollte man nun von Gottes Kartenglück oder Schafkopfgeschick abhängig sein, oder den handfertigen Mogelversuchen eines Zerb…
    Ein Schlag in die Flanken reißt mich aus meinen christlichen Überlegungen. Die Wucht wird von den gepolsterten Trägern meines Achtzig-Liter-Rucksacks gedämmt. Olsen boxt wiederholt in meine Seite. Diesmal trifft er meine empfindlichen Rippen. Stoßartig verliereich kostbare Luft. Mein Gesicht verformt sich zu einem ziemlich genervten »Was soll das denn?«
    Die klare Alpinsonne lässt Olsens Gesicht heroisch und golden aufglimmen. Leni Riefenstahl brannte solche in Sepia getauchte Momente auf Filmrollen. Ein Hamburger Luis Trenker. Ein Hans Albers des Alpinismus. Ich folge Olsens Arm, der in die Ferne gerichtet ist. Vorerst erkenne ich dort nur eine Felswand. Unterhalb des Felsens eröffnet sich eine grüne Almwiese. Findlinge liegen wie verstreute graue

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