Grimms Erben
Hüttenwirt einschreitet.
Olsen und ich amüsieren uns über die Frauen aus München, von denen jede Einzelne, wie wir erfahren, vor einigen Jahren im P 1 , der Nobeldisko der Stadt, mit Fußballprofis des FC Bayern anbandelten. Die Namen Scholl, Kahn und Trares fallen. Ich fühle mich genötigt, ihnen mitzuteilen, dass Trares ein Spieler des Stadtkonkurrenten TSV 1860 war. Sie beschimpfen mich aufs äußerste, setzen sich aber an unseren Tisch. Bevor es zu ähnlichen Szenen wie gestern im Brandtner Hof kommt, täuschen Olsen und ich Müdigkeit vor und verschwinden im ersten Stock in unseren Schlafsäcken. Ich befinde mich bereits im Halbschlaf, als ich an die Münchnerin denke, die offenbar an Mehmet Scholl interessiert war. Sie ähnelt ein wenig Theres. Meine Gedanken schweifen kurz ins Hochzeitskammerl. Ich fasse in meinem roten Schlafsack vorsichtig an mein Geschlechtsteil. Das Brennen hat aufgehört. Das Verlangen kehrt zurück.
Neine — Der schmale Grat
Ich stehe am Eingang des Gastraums der Coburger Hütte. Müde halte ich Ausschau nach Frühstück und Olsen. An der Garderobe hängt eine in einen Zeitungsstock geheftete Tageszeitung. Es ist die mit den vier Buchstaben. Ob aktuell oder nicht, die reißerische Überschrift fällt mir sofort ins Auge.
Der Berserker aus Niederbayern.
Darunter kleiner: Amoklaufender Märchenfreak weiterhin flüchtig.
Ein grob pixeliges Foto eines männlichen Gesichts ist abgebildet. Offenbar der Berserker von Niederbayern. Dieser hat eine kurze Stoppelfrisur. Die dicken Brillengläser sind auffällig. Sehr viel mehr ist darauf nicht zu erkennen. Ich lache kurz auf. Der Mann vorgestern am Straßenrand mit seinem verrückten Fahrrad, der hatte ein ähnliches Gesicht. Zufälle gibt’s.
Mein Interesse den Artikel betreffend ist nicht nur beruflicher Natur. Da ich auf 2000 Meter nicht die Süddeutsche erwarten kann, muss ich mich mit der Boulevard-Version der Geschichte zufriedengeben. Ferner verspricht auch die Überschrift des Artikels darunter Spannung: Bayern beim HSV nur Remis. Hoeneß tobt. Also, interessante Themen.
Ich will mir das Papier gerade vom Haken fischen, da ertönt Olsens Stimme. Er ruft durch einen dicken Essensbrei so etwas Ähnliches wie: »Hierher!« Ich folge der Stimme. Die Zeitung lasse ich hängen.
Olsen hat sich etwa elf Räder Jagdwurst auf den weißen Porzellanteller gehäuft. Auf einem zweiten Teller sehe ich vier Ecken Camembert und vier Scheiben Schnittkäse, womöglich Maasdamer. Diese Wurstkäseanhäufung steht auf dem Tisch, während Olsen am Buffet gerade nach Butter, Marmelade, Kelloggs, Obst, Joghurt, Nutella, Brötchen, Kuchen und, halten Sie sich fest, weiterer Jagdwurst, Ausschau hält.
»Nie wieder Hungerast im Aufstieg«, erklärt er diese räuberisch hortende Maßnahme. Nach meinen Berechnungen, die allerdings auf Annahmen und nicht auf Erfahrung basieren, wird das heute nur eine leichte Begehung schiefer Ebenen ohne große Steigungen. Kein Vergleich zu der gestrigen Königsetappe.
Olsen kommt zurück an den Tisch. Neben ihm eine Person, die, so wie er selbst, zwei mit Frühstücksutensilien gehäufte Teller balanciert.
»Hierher bitte«, befehligt Olsen dem treuen Träger. Nun stehen sechs mehr als gehäufte Frühstücksteller auf Olsens Seite. Die drei bis zum Rand gefüllten Saftgläser sorgen für bunte Kleckse in diesem Durcheinander.
Rein äußerlich wirkt Olsen harmlos. Aber er ist der Typ Mensch, der Tonnen von Zucker und Fettstoffe schluckt und kein Gramm mehr als sein Idealgewicht auf die Waage bringt. Blond, drahtig, klein. Ein Michl-aus-Lönneberga-Verschnitt im Erwachsenenalter. Ich glaube, dass er sich einer Enzymblockade erfreut. Durch das Fehlen von MGAT 2 ist er zum Dünnbleiben verdonnert. Ich habe dieses Wissen einer empirischen Studie eines renommierten Fachblatts entnommen. Allerdings ging es da um Mäuse, nicht um Olsens. Ich halte meine Vermutung dennoch aufrecht.
»Das ist Jürgen.« Olsen deutet mit ausgestreckter Hand auf den braungebrannten Mann, der sportlich und ledern wirkt. Ein Mann aus den Bergen. Ohne Zweifel.
»Jürgen bietet Führungen an. Bergführungen. Kletterpartien und so Zeugs. Ich meine, nach unserem gestrigen Aufstieg könnten wir heute noch einen drauflegen. Nüchtern, wie wir sind, haut uns so schnell nichts mehr um. Was meinst du, Joseph, hm?«
Ich blicke abwechselnd von Olsen, der sich mittlerweile gesetzt hat, zu Jürgen, der immer noch vor unserem Tisch steht, und zurück. Ein
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