Grimms Erben
Liebesleben ehrbarer Personen. Das Hochzeitskammerl, ein Ort der Liebe, Friedlichkeit, Besinnung auf ewiges Glück. Kein Ort der Vergewaltigung, von Mord oder Lüsternheit.
»Wos denkst denn?«, will Theres wissen.
Ich blicke auf meine Armbanduhr, das einzige »Kleidungsstück« an meinem Körper – bestimmt ein hocherotisches Bild – und staune. 2 Uhr 34.
»Ich denke…«, beginne ich. Mein Glied schmerzt, und meine Haut schreit: »Duschen! Duschen!« Oberhalb meiner Hüftknochen glühen auf beiden Seiten jeweils vier rote Striemen, gezeichnet mit acht Fingernägeln. Es erinnert ein wenig an die Fußballnationaltrikots Kameruns bei der WM 2002.
»Ich denke, dass du hier die Chefin bist.«
Ich hebe den Bewirtungsbeleg, den ich durch schnelle Bewegung zwischen Zeige- und Mittelfinger flattern lasse.
»Theres Brandtner.«
Lächelnd rekelt sich Theres auf dem Bett.
Ich sage: »Wo eine Chefin ist, ist auch ein Chef.«
Theres, nun in Bauchlage, hat ihr Kinn auf ihre Hände gestützt, die Unterschenkel baumeln auf und ab. Sie wirkt wie ein zwölfjähriges Mädchen, das verträumt an einem Bach liegt und den Forellen beim Schillern zusieht. Ihr noch schweißnasser Haarzopf schmiegt sich zwischen ihren Rückenmuskeln abwärts, auf die Pobacken deutend, an die Haut. Ein exzellentes Beispiel für die Schönheit weiblicher Anatomie. Ihre roten Wangen, ihre glasigen, zufriedenen Augen, ihre mit Haarsträhnen verklebte Stirn weisen zu mir. Kaum vorstellbar, dass sich diese liebliche Erscheinung eben noch wie ein Raubtier gebärdete.
»Da Chef is a Pfeifn.«
Ihre Unterschenkel wackeln immer noch, als würden sie ein Spinnrad antreiben. Dieses Spinnrad zirkelt durch meine Hirnwindungen.
Der Satz rührt mich. Nicht zu Tränen, im Gegenteil. Er verheißt Gefahr:
Mich benutzte eine verheiratete Frau zur sexuellen Befriedigung.
Auf dem Flur vor der Tür zum Hochzeitskammerl höre ich eine hektisch flüsternde Stimme.
»Theres, wo bistn? Theres? Zefix.«
Der Eigner dieser Stimme ist Rudi, der Schankwirt. Rudi, der Gästeschlichter. Rudi, der Zefix-Mann. Rudi Brandtner – Chef und Pfeife in Personalunion.
Sieme — Der Aufstieg
Fremde männliche und weibliche Geschlechtsteile sind für mich nichts Neues. Friedhelm Schmidt, mein Onkel, der mich nach dem Tod meiner Eltern adoptierte, war in Urlaubszeiten ausgeprägt auf FKK gepolt. Auch Tante Walli liebte es, wenn der Sonnenstrahl den unbedeckten Lendenbereich beschien. Wir lebten in Uelzen. An der Ostsee lag der Nacktbadestrand Wallnau. Drei Stunden Autofahrt. Jeden Sommer pulte ich mir Sandkörner aus der Poritze. Wir brieten unsere Würste. Gegrillt haben wir auch. Der Campingplatz war voller Nackter. Nackig baden, nackig grillen, nackig Müll wegbringen, nackig Sport treiben. Kein schöner Anblick. Ich erinnere mich an wie Schlangen schwebende Geschlechtsteile, deren Tanz ich durch meine Taucherbrille unterhalb der Wasseroberfläche genau beobachten konnte. Nackt sein war für diese Leute Dogma, und ich war mittendrin, bis ich fünfzehn war.
Der stete Anblick nackter Erwachsener hat mich nicht psychologisch zerrüttet, im Gegenteil. Meine spätere künstlerische Tätigkeit profitierte davon immens. Das Verarbeiten anatomischer Proportionen geht mir leicht von der Zeichenhand. Das enervierende Spiel der Muskelschlingen habe ich am FKK-Strand zu Wallnau studiert und im Studium perfektioniert. Nackte Tatsachen? Ein mir innewohnender Automatismus. Ein Vorkommnis hatte mich aber damals in Wallnau doch schockiert:
Als ich einmal hinter unserem Zelt im herrlichen Abendrot nach weiteren Campingstühlen Ausschau hielt, die dort für ungebetene Gäste, die man nicht loswurde, gelagert waren, überraschte ich einen etwa fünfundfünzigjähriger Mann, der sich knapp entfernt von unserer Behausung seines Stuhls entledigte. Ich meine hier nicht Campingstuhl, sondern Kot. Ich traute meinen Augen kaum.
»Heiliger Bimbam!«, sagte er, als er sich ertappt sah. Der dreiste Kerl deutete noch einige Dehnübungen an, während er sein Geschäft vollends verrichtete, und trabte dann mit folgenden Worten die Dünen entlang: »So ein Abendjogging mindert das Körpergewicht.« Sein sich Entfernen begleitete er mit einem schmetternden »Wenn in Capri die Abendsonne im Meer versinkt«. Er benützte weder Papier noch Wasser zur Säuberung. Was mich am meisten schockierte.
In den Bergen gibt es keine Nackten. Schon gar keine Jogger, die ihr Gewicht mindern wollen. Falls man der Notdurft
Weitere Kostenlose Bücher