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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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Kaffeebohnen im Gras. Einzelne Nadelbäume ragen wie grüne Granatsplitter aus der Erde. Und nun sehe ich auch das Blitzen und Glitzern, auf das Olsens Zeigefinger deuten mag. Aus einer schmalen Senke leuchtet ein smaragdgrünes Wasser, das mittig ein tiefes Lapislazuli-Blau annimmt. Eine Träne der Alpen. Der Drachensee. Unser Ziel.
    »Alter Vatter, Reinhold, wir haben es geschafft!«, rufe ich Olsen zu.
    Olsen flennt. Er ist überwältigt. Nichts ist mehr von seiner Ermattung zu spüren.
    Hier oben auf 2000 Metern herrschen Reinheit und Vergessen. Im Anstieg drohten mir in manch schauderhaften Momenten die Sinne zu schwinden. So groß war die Qual. Der Berg aber zog uns in die Vertikale hinauf, wo Glück und Tragik wie selbstverständlich nebeneinanderwohnen. Eine unerkärliche Macht befahl uns ständiges Marschieren. Neben dem Pfad des Grauens zirpten Grillen, flatterten bunte Schmetterlinge, und farbenfrohe Blumen wogen ihre Köpfe seicht und leicht im Bergwind, als ob sie zu unserem Takt des Trauermarsches mit den Köpfen nickten. In diesen Momenten wird man zum Bergmann mit dem unbedingten Willen, sein Ziel zu erklimmen.
    Als Anfänger in dieser Zauberwelt blutet man doppelt. Unsere Seefahrerwaden sind blau, innen wie außen. Auf Vater Olsens Segelyacht braucht man nur drei Sachen: Champagner, einen Korkenzieher und Olsens Vater zum Navigieren. In der Welt der Drei- und Mehrtausender braucht man Körperkraft, Überlebenswillen und tausend Tricks und Kniffe, um die inneren Schweinehunde zu besiegen.
    Saures Blut trägt süßen Sauerstoff durch unsere pulsierenden Bahnen. Schwindel und Taumel setzen sich zwischen Gehirn und Stirnknochen fest. Die Anstrengung spricht ein humorloses »Schach« aus. Ein Flugtier, unser Adler vermutlich, stößt einen spitzen Schrei aus, der zwischen zwei Steilhängen hin und her fächert. Wir atmen tief durch die Nasenlöcher ein. Die Reinheit des Tajatörl. Auf 2000 Metern Höhe nehmen wir einen gierigen, aber kontrollierten Schluck Wasser. Alle Qual wie weggeblasen. Dann sind wir am Zug und sagen der Anstrengung »Schach matt!«
    »Reinhold, wir haben es geschafft«, wiederhole ich lustig.
    Ich nehme Olsen in den Arm. Er wimmert. Als ich ihn wieder von mir drücke, hängt ein langer Rotzfaden von meiner Schulter zu seinem linken Nasenloch. Mein Wortspiel mit Reinhold Messner hat er nicht verstanden. Wie auch? Olsen hält Reinhold Messner für eine Teesorte.

    Achte — Coburg auf 2000 Meter
    Unsere erste Nacht im Berg, wie die Profis sagen, verbringen wir auf der Coburger Hütte. Die Coburger Hütte, 1917 Meter oberhalb unserer Heimat Hamburg, liegt in einem Hochtal nahe dem Seebensee und dem darüberliegenden Drachensee. Der Blick über den Seebensee ist unwirklich und deshalb wirklich wahnsinnig idyllisch. Das gegenüberliegende Zugspitzmassiv malt sein eigenes, umgekehrtes Bild auf die silbrige Wasserfläche. Schon jetzt falten sich Visualität, Idee und Umsetzung in meinem Kopf zu einem Stück Märchenbild zusammen, das ich dramaturgisch eher bei Dornröschen als bei Schneewittchen sehe.
    Auf einem Sattel, Olsen schätzt genau 250 Meter über dem Seebensee, befindet sich die Coburger Hütte inmitten einer überwältigenden, aber für uns Neulinge auch beängstigenden Bergkulisse. Umrahmt von den Gipfeln Sonnenspitze, Drachenkopf, Marienbergspitze, Grünstein, Tajakopf und den Griesspitzen wissen wir um unsere Nichtigkeit. Ein Matratzenlager bietet uns Weichheit, unsere Schlafsäcke Intimität. In den zwanzig bettenähnlichen Kuhlen haben sich sechs weitere Bergsteiger eingenistet.
    Zwei ältere Herren aus der Röhn, erfahrene Bergsteiger, wie sie sagen. Sie führen Steigeisen mit sich.
    Ein Theologiestudent, der seine Vorlesungen sausenlässt auf der Suche nach einer spirituellen Erfahrung, die er zwischen Gipfelkreuzen und Almwiesen zu finden hofft. Er will die göttliche Anziehung ergründen. Müsli, so heißt er bei uns und unter der Hand, ist ein Kauz der unlustigen Art. Wir halten uns fern.
    Drei Münchnerinnen Anfang vierzig, die ihre alljährliche Pilgerwanderung durchführen. Der Jakobsweg ist mittlerweile zu überlaufen. Da haben sie sich das Tajatörl ausgesucht. Aber ich bin mir sehr sicher, gepilgert sind die drei Damen, welche mit einer enormen Intensität und Geschwindigkeit ihre Weißbiere hinunterschütten, bisher höchstens zu Brauereibesichtigungen. Sie verunglimpfen ihre zu Hause gebliebenen Ehemänner mit einer Unverfrorenheit und Lautstärke, dass der

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