Grimms Erben
unten.
»Doch. Dort. Der schwarze Mann in dem langen Mantel. Er hat eine Sense geschultert.«
Olsen sieht Gespenster. Noch mehr. Seine beginnende Agonie malt ihm den Seelensammler vor die Augen: Boandlkramer himself. Dumme Stammtischgeschichten.
»Olsen, ruhig Blut. Da ist niemand.«
Verflixt, kurz glaube ich, den schwarzen Mann auch gesehen zu haben.
Joseph, ruhig Blut.
In meinem Körper krabbeln Ameisen. Ich versuche, durch therapeutische Atemtechnik die Insekten und das Zittern zu vertreiben. Lange aus-, lange einatmen. Aufregung raus, Ruhe rein. Ich inhaliere einige Sekunden frische Bergluft. Die Aufregung steigt. Atemtechnikfehler.
Olsen scheint ein apathisches Stadium der Gleichgültigkeit erreicht zu haben. Wenigstens brabbelt er nichts mehr vom Tod im schwarzen Gewand. Und er sieht nicht mehr nach unten, sondern glotzt gegen die Felswand.
Über mir erscheint Jürgens Gesicht. Verkehrt herum. Auf dem Kopf sozusagen. Mich ereilt ein Schwindelanfall. Es sieht aus, als schwebe sein Oberkörper über einem Überhang. Das Gefühl hatte ich ständig beim Hochklettern. Als würde man Überhänge hochsteigen, abrutschen, nach hinten wegkippen.
»Ja Buam, wås is? I brauch des Zeig då ohm.«
»Olsen geht’s nicht gut. Mir auch nicht. Ich denke, wir sollten umkehren.«
»Des glaab i ned, weil mia no ned fertig han. Åiso, her mim Rucksåck.«
»Jürgen, das ist kein Spaß mehr. Wir fürchten uns. Wir wollen…«
»Hahaha!« Hier lacht der Teufel noch selbst. »Ia Angsthåsn. In de Bearg neifåhrn und dann in d’Hosn scheißn. Wås isn des füa a Saupreißngschicht, ha?«
Ich sehe nach oben, direkt in Jürgens Gesicht, und bemerke, dass seine Schmähungen bitterernst gemeint sind. »Des Zeig hea jetz!«
Der schwere Rucksack, in dem sich einiges Bergwerkzeug und Stahlhaken befinden, gleitet von meinen Schultern. Ich hebe ihn mit dem linken Arm ausgestreckt in Jürgens Richtung, so weit mein Gleichgewicht dies zulässt.
»Ja Depp, muasst scho a bissal hochkraxln«, ruft er den Kopf schüttelnd.
Ich sehe ihm in die zynisch blickenden Augen.
Hoppla, jetzt komm ich.
»Ja Depp«, sage ich ruhig in einem Saupreißn-Bayrisch. »Musst schon ein bisserl runterkraxln.«
Dann fällt das schwere Monstrum den Abhang hinab. Jürgen schreit unverständliches Zeug, will fast nach dem Rucksack hechten. Nach drei Sekunden hört man einen dumpfen Aufprall.
»Ia Saupreißn, ia blädn…«
Tiraden ohne Unterlass. Ich klettere zu Olsen und geleite ihn vorsichtig von dem schmalen Grat auf eine Art Hochsitz aus Stein. Jürgen habe ich über den Abhang nach unten klettern sehen, fern der markierten Wege. Ohne Seil und Sicherung. Eine menschliche Bergziege. Rucksackrettung, vermute ich.
Wir verharren drei Minuten in Stille, aus der wir Mut und Überzeugung schöpfen. Yes, we can. Zumindest we try. Wir wagen den Abstieg.
Gemeinsam helfen wir uns durch den Irrgarten aus Felsvorsprüngen, Stahlseilen, natürlichen Steintreppen, Steilpassagen und Wurzelgeflechten. Sobald wir ein Stück Ausblick erhaschen können, weil unsere schmerzenden Füße sicheres Geläuf ertasten, blinkt der Seebensee zwischen Latschenhängen, Schotterkarren und Berggipfeln zu uns empor. Die königliche Zugspitze und das Wettersteinmassiv, wie wir später erfahren. Wir saugen dieses monumentale Naturereignis in uns auf.
Aber wir sind noch nicht in Sicherheit.
Olsens Stirn ist immer noch von ängstlichen Furchen durchzogen. Zum letzten Mal bringt er seine Wertschätzung für Jürgen, den lebensmüden Bergführer, zum Ausdruck.
»Was für ein Arschloch.«
Stimmt ganz genau.
Konzentriert und mit wackligen Bewegungen treiben wir weiter bergab, bis wir glücklich und endlich über Wanderwege und durch Latschenwälder dahintrotten, ohne viele Worte zu verlieren. Die Schatten der duftenden Nadelbäume kühlen unsere heißen, hochroten Köpfe. In den sonnigen Passagen trocknet unser Angstschweiß zu Salz auf der geretteten Haut.
Auf dem Rückweg zur Coburger Hütte passieren wir eine silbrige Pflanze. Edelweiß. Ich will es als Erinnerung an die gemeinsame Bewältigung einpacken, erinnere mich aber, dass diese seltene Pflanze dem Naturschutz unterliegt. Genau das will ich Olsen mitteilen, da hält er das Ding schon wie einen Jagdwurstteller in den Händen.
»Edelweiß! Zur Erinnerung an das weiße Licht, das den Bergtod im Schlepptau hatte. Und zur Erinnerung an den dümmsten Führer der Alpen. Und danke, Joseph, dass du mich da rausgeholt hast.«
Wir
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