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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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umarmen uns. Wäre Olsen eine Frau, jetzt wäre für mich ein guter Zeitpunkt für einen filmreifen Kuss. Ich lasse es. Olsen nicht. Voll auf die spröden Lippen, die von der Höhensonne rissig geworden sind. Er lässt die Zunge weg, Gott sei Dank. Es ist ein Moment von immenser Aussagekraft. Olsen fühlte sich dem Bergtod nahe. Er blickte in den Schlund der alpinen Gefahr, vor der in Partenkirchen am Stammtisch ausdrücklich gewarnt wurde. Seine Verzweiflung war tonnenschwer, nun auch seine Dankbarkeit. Ich muss gestehen, mir ging es ähnlich. Aber bitte: Wir leben!
    Das Edelweiß soll ab nun Wahrzeichen unserer unzertrennbaren Freundschaft sein. Wir nehmen uns Folgendes vor: Wöchentlich wechselt die Bergblume in unserem PumpLine-Büro den Schreibtischplatz, um uns an unseren mutigen Kampf gegen die Naturgewalt zu erinnern. »Joseph, schau mal.« Olsen knufft mich in die Seite. Er deutet in den Tannenwald. »Was tut der da?«
    Ich erkenne etwa fünfzehn Meter vom Wanderpfad entfernt einen Mann, der einen längeren Wanderstock aus Holz geschultert hat. Verdammt noch eins, von hier sieht er aus wie der Boandlkramer. Der fast bis zu den Knien reichende Parka, wie der Mantel des Sensenmannes. Der geschulterte Stab, wie die Sense des Sensenmannes. War er es, den wir in unserer Agonie als den Boten des Todes ausgemacht hatten? Aber Olsens Frage ist berechtigt – Was tut der da?
    Er steht zu den Bäumen gewandt, den Kopf in den Nacken gelegt, auf einer mit Moos bewachsenen Stelle. Ein unheimliches Brabbeln bullert aus seinem Mund, wir hören das. Spricht der etwa zu den Bäumen? Mich erinnert er ein wenig an den Mann, den ich vorgestern am Straßenrand sah. Der Mann, der einen Autoatlas auf sein Fahrrad montiert hatte. Der Mann, dessen Gesicht ein wenig dem des Märchenfreaks und Berserkers aus Niederbayern ähnelt. Wieder muss ich kurz lachen. Wir, die wir Märchen illustrieren sollen, treffen auf einen Mann, der aussieht wie ein gesuchter Märchenfreak und Amokläufer. Ist das ein Witz oder Zufall? Zu Olsen sage ich: »Komm, lass uns schleunigst verschwinden, bevor er uns bemerkt.«
    Zwei Stunden später sitzen wir vor der Coburger Hütte und trinken kraftspendendes Weißbier, das unsere Kehlen wiederbelebt. Das Muskelzittern ist einem Gefühl der Zufriedenheit gewichen. Angst ist kein guter Begleiter in den Bergen, aber Weißbier. Die untergehende Sonne verwandelt die Weizengetränke in zwei rötliche Tischlampen. Wir fahren unsere Maschinen herab, beschließen, eine weitere Nacht in der Coburger Hütte zu bleiben und ebenso ein weiteres Weißbier zu ordern. Fuck off Pilsner Bier!
    Der Wirt namens Christian nimmt zufällig, obwohl dafür nicht zuständig, unsere Bestellung entgegen. Im Schwung zurück Richtung Eingangstür hält er inne. Er entdeckt unser Edelweiß, und ich ärgere mich, weil wir unser verbotenes Souvenir nicht versteckt haben.
    Christian deutet mit dem Zeigefinger darauf und meint lapidar:
    »Soll i des wegschmeißn? Die Distel, die da liegt?«

    Zehne — Camp Hamburgo
    »Das hätten Reinhold Messner, Hillary Clinton, Nanga Parbat und wie sie alle heißen nicht besser hinbekommen.«
    Olsen steht stolz vor unserem Lager. Mich, aber vor allem sich selbst lobend ob des professionell wirkenden Basiscamps auf einer Almwiese zwischen den Seebenwänden und dem Hohen Gang. Mit Hillary Clinton meint er wohl Sir Edmund Hillary. Dass Nanga Parbat kein menschliches Wesen, sondern der neunthöchste Berg der Welt ist, werde ich ihm später sagen. Wenigsten hat er Reinhold Messner als Teesorte verbannt, nachdem ich ihn gestern bei Weißbier und Sonnenuntergang über die heldenhaften, sauerstoffarmen Erstbesteigungen des Südtirolers informiert habe. Am Morgen stärkten wir uns nach meinem Empfinden etwas zu dreist am Frühstücksbuffet, aber der Umfang des Verzehrs ist nicht vorgeschrieben.
    Wir fühlen uns stark, und in einem Zustand der Überzeugung rufe ich Olsen zu: »Olsen, heute könntest du sogar den Olympus Mons besteigen, was?«
    »Wen?«, schallt es zurück.
    »Olympus Mons!«
    »Eine Kamera?«
    »Idiot, das ist der höchste Berg des Sonnensystems. Vierundzwanzig Komma sechs Kilometer hoch. Ist auf dem Mars.«
    Olsen bleibt stehen und dreht sich mit nachdenklicher Miene zu mir um. »Messner könnte ihn schaffen«, meint er überzeugt. »Ohne Sauerstoffgerät.«
    Wir haben ab dem Seebensee Richtung Hoher Gang den Weg verlassen und sind querfeldein gelaufen. Uns begleiten Bienen und Zitronenfalter.
    Wir

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