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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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essen Dosenfisch und verspüren einen Hauch Heimat. Heimweh überhaupt nicht. Zu schön liegt unser »Camp Hamburgo« vor einer Bergwand auf einer saftigen Alm. Den Einstieg zum Seebener Klettersteig haben wir hinter uns gelassen. Das Rauschen eines Wasserfalls, der unweit in die Tiefe stürzt, erinnert uns an eine Disko mit schlechter Soundanlage. Der Gebirgsbach wird uns das lebensnotwendige Wasser spenden. Und das mussten wir nicht einmal in Nehbergs Überlebensfibel nachlesen.
    Wir sind eingerahmt von Gipfeln, deren Namen wir nicht kennen. Wir verteilen eigene.
    Großer Mantel, Landungsbrückenkopf, Nasenbär, Zinnenzopf, Reeperberg, Weißbierkelch, Schiefer, Gerader, Nadelöhr, Alte Weisheit, Röschendorn, Lawinenhang, Dopenose und so weiter.
    Zu unserer Linken steht ein kleiner, aber dichter Wald aus Bergkiefern. Einzelne Felsbrocken säumen die Wiesen. Ein Jägerstand verspricht äsendes Rot- bzw. Dammwild. Das Szenario erinnert uns an die Zeichentrickserie Heidi. Olsen summt sofort die Titelmelodie, oder war es die Melodie, zu der Hund Oskar immer durchs Fernsehbild tappte?
    »Sieh mal, Olsen. Zwischen den Bäumen dort.« Ich schirme meine Augen ab.
    »Was soll da sein?«
    Zeit vergeht, bis ich mir sicher bin.
    »Ein Hirsch.«
    Es herrscht Stille.
    »Stimmt, Joseph.«
    Vor uns erstreckt sich ein Naturgemälde in 3-D. Wie es der Teufel und das Klischee so wollen, steht im Vordergrund auf der Almwiese, am Rand des zauberhaften Waldes, ein Hirsch. Ich lüge nicht. Zwölfender oder vielleicht sogar mehr.
    »Majestätisch«, flüstere ich in diese Erhabenheit.
    Im Hintergrund des mächtigen Waldtieres baut sich eine nicht zu verachtende Hütte auf. Wiederum dahinter ein Bergmassiv.
    Das Dach der Berghütte wird von Steinen beschwert, das tiefbraune, wettergegerbte Holz duftet, rudimentäre Sitzgelegenheiten stehen auf einer breiten Veranda, an die sich ein Wassertrog lehnt, aus dem eine Quelle sprudelt. Ein Bild des Friedens.
    »Mal das auf, Olsen.«
    Genau deswegen haben wir uns für diese Arbeitsreise entschieden. Als Olsen rasch und skizzenhaft alles aufs Papier bringt, hat unsere Arbeit an dem Märchenbuch begonnen.

    Oife — Mitternachtsvesper
    Ich sitze unterm nächtlichen Himmelszelt. Trilliarden Sterne funkeln. Olsen schmollt. Nachdem er mir seine unmögliche Vorstellung hinsichtlich der Illustration für Pechmarie und Goldmarie in »Frau Holle« dargelegt hatte, folgte eine Diskussion, die ihn ermüdete. Ich habe ihm eindringlich zu erklären versucht, dass modern nicht immer gleich übertrieben anders zu bedeuten hat. Die Figur der Pechmarie ist exemplarisch für Faulheit und nicht für Sado-Maso-Techniken im Domina-Metier. Goldmarie verkörpert Fleiß und Arbeitssinn. Sie als wohlgeformtes, ästhetisch beneidenswertes Aktmodel darzustellen, finde ich unpassend.
    »Spießer«, raunt Olsen genervt.
    »Zumindest sollte Sex aus dem Märchengut ferngehalten werden, das verlangt der Respekt vor dem Klassischen.«
    »In der Antike war irgendwie alles sexuell. Vor allem die Götter.« Olsens stärkstes Argument probiere ich zu entkräften.
    »Märchen und Antike unterscheiden sich stark. Ein Märchen hat immer Moral. In der Antike war Moral nicht existent. Der Vergleich hinkt also.«
    »Moral und Ethik? Was kümmert dich das? Wie stets denn mit Betrug im Wirtshaus?«
    Ich lache.
    »Ich habe die Rechnung bezahlt. Du warst dabei.«
    »Du hast die Bedienung verräumt. Im Nachbarzimmer. Ich war dabei.«
    »Ich dachte, du hättest die Nacht kotzend im Bad zugebracht.«
    »Habe ich. Ein Raum mit einer hellhörigen Akustik. Ich dachte, du stichst die Dame ab. Was wohl Ehemann Rudi dazu meinen würde?«
    Touché.
    Ich bitte Olsen, die beiden Marie-Schwestern nicht zu dirnenhaft darzustellen und ihre Brüste mit BHs zu verdecken. Er nickt zufrieden. Grinsend dreht er eine Zigarette mit Inhalt. Er ist kein Potthead, aber zu einem schwarzen Afghanen sagt er nicht »Salam«, sondern entzündet das zur Spitze zusammengezwirbelte Zigarettenende. Dass er Stoff mit auf den Berg schleppt, war mir gänzlich unbewusst, ist mir aber nicht egal. Ich verspüre einen Freiheitsdrang, der mit dem Konsum dieser Droge durchaus in Einklang zu bringen ist.
    Die Pofe glüht.
    Ein Lagerfeuer nicht.
    Als Neuankömmlinge in der Wildnis entscheiden wir uns in unserer ersten Nacht unter freiem Firmament gegen eine holzbetriebene Erhellung. Warm eingepackt liegen wir auf unseren dicken Isomatten vorm Zelt und trotzen mit Daunen und Goretex der

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