Grimms Erben
Schwere des Falles auch landesweiter Blätter ausgiebig durchleuchtet. Und das Internet gibt es ja auch noch.
Sie ahnen es längst. Ich habe Locher auf den Fotos wiedererkannt. Ich bin ihm begegnet. Er war es, der mich in den Alpen nach der Mandlhütte gefragt hat. Er war es, der mit den Bäumen sprach, als Olsen und ich dem Todeskletterpfad entronnen sind. Er war es, der mit einem alten Fahrrad am Straßenrand stand und in seinem Autoatlas stöberte, als wir mit dem Auto vorbeifuhren.
Vom »Racheengel« war in den Zeitungen die Rede. Vom »Locher-Prinzip«. Von »der personifizierten geistigen Verwirrung«. Vom »Kultkommando«. Und vom »Spiegel der Gesellschaft«.
Eine Zeitung titelte boulevardesk: »Der Berserker aus Niederbayern«. Ich erinnere mich, dass ich ebendiese Ausgabe in der Coburger Hütte an der Garderobe hatte hängen sehen. Sogar das Königsblatt der Satire, die Titanic, ging auf die Geschichte ein.
Meiner Recherche zufolge lebte August Locher in einer gesellschaftlichen Dysbalance, die er mit einigen nicht rechtskonformen Mitteln zu begradigen versuchte. Aber der Zweck heiligte sie nicht.
August Locher bekam lebenslang.
Ein ordentliches Gerichtsverfahren sorgte für das Strafmaß, in dem auch Schlagwörter wie Provokation, Affekt und Notwehr an der Justitia-Waage ihre Zünglein anlegten, jedoch nichts am Urteil änderten. Lochers Anwalt, ein gewisser Herr Professor Dr. Albrecht Dörner, Herausgeber des Fachbuches »Schuld und Unschuld – Ein Pingpongspiel«, plädierte auf Schuldunfähigkeit, die ihm eine lebenslange Haft erspart hätte. Aber jeglicher Versuch, August Locher eine saftige Psychose nachzuweisen, schlug fehl. All seinen Macken, Marotten, Manien und Monomanien werden mit all den haarklein und akribisch geplanten Widerlichkeiten verrechnet, die er seinen Peinigern hatte angedeihen lassen, und man muss wohl sagen, Lochers Verurteilung ist angemessen, wenn auch nicht unbedingt gerecht.
August Locher wurde acht Tage nach seinem zornigen Rachefeldzug von einem Konglomerat aus Ehrwalder Bergwacht, Lermooser Polizeiinspektion und bayrischer Kriminalpolizei festgenommen. Ein Major namens Bernd-Robert Haslinger schrieb in den Polizeibericht: »… Nachdem uns der Bergführer Jürgen Prachtl auf eine tote Person in der sogenannten Mandlhütte aufmerksam gemacht hatte, fanden wir beim Eintreffen den in Deutschland gesuchten Amokläufer August Locher, geborener Becker, kurz vor der Mandlhütte auf dem Wanderweg. Sein spezielles Gepräge verriet ihn sofort. Der sich aufgrund tatkräftiger Hinweise schon in Ehrwald befindliche Kriminalhauptkommissar Walter Binsen war mit von der Partie. August Locher ließ sich widerstandslos festnehmen. Seine Frage, ob die Hütte weiter vorne die Mandlhütte sei, wurde bejaht. Seine Bitte, sie einmal kurz betreten zu dürfen, konnte aufgrund seiner Gefährlichkeit nicht nachgekommen werden. Mit den Worten ›So kurz vor dem Ziel‹ ließ er sich in Sicherheitsverwahrung nehmen. Im Helikopter begann er zu greinen. In der Hütte selbst fanden wir den Leichnam des Einsiedlers Aki, mittlerweile bekannt als Zacharias Locher, Großvater des August Locher. Ballistiker und Pathologen des Innsbrucker Kriminalamtes stuften später das Ableben von Zacharias Locher durch einen Rückstoßlader der Marke Walther P38 als Selbstmord ein. Verwunderlich war der Zustand der Berghütte. Abertausend bekritzelte Papierkugeln und Briefbögen bedeckten den Fußboden. Darauf konnten wir uns keinen Reim machen. Nach kurzer Befragung von August Locher stellte sich als erwiesen heraus, dass er den seit sechzehn Jahren vermissten Großvater gesucht, die Hütte aber nicht betreten hatte. Er kam einfach ein paar Stunden zu spät. Somit kommt er als Mörder seines Großvaters nicht in Frage. Aber es war eh Selbstmord.
August Locher wurde nach Deutschland, München, überführt. Kriminalhauptkommissar Walter Binsen übernahm die weiterführenden Untersuchungen. Für kriminologische Details wie…«
Kurz vorm Ziel, kurz vor der Wiedervereinigung von August und Zacharias, und der Auflösung des großen Geheimnisses, waren Hindernisse aufgetreten. Unüberwindbare. Dem einen war ein Walter Binsen, dem anderen eine Walther P38 in die Quere gekommen.
Nach diesem dramatischen und irgendwie traurigen Showdown in den Alpen startete einige Wochen später das »Jahrhundertstrafverfahren« von August Locher, dem zur Last gelegt und nachgewiesen wurde:
Tierquälerei und Sachbeschädigung in einem
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