Grimms Erben
Fall. Man sollte wissen: Tiere gelten insoweit als Sachen.
Nötigung, Körperverletzung und Freiheitsberaubung in mehreren Fällen.
Totschlag in einem Fall.
Sachbeschädigung, versuchte Körperverletzung und Brandstiftung in einem Fall. Schwere Brandstiftung in einem Fall.
Versuchter Mord in vier Fällen.
Die weiteren kriminellen Handlungen, die damit verbunden waren, wurden erst gar nicht aufgenommen. So kleinkariert wollte der Richter nicht sein.
Auch so ein sattes Strafregister. Und wer genau hinkuckt, der entdeckt eine Erweiterung der zehn Gebote um sieben saftige Dekrete:
Du sollst keine Hunde mit Tabasco vollpumpen!
Du sollst keine Rollstuhlfahrer ein Gefälle hinabstoßen!
Du sollst keine Kinder an Basketballkörbe nageln!
Du sollst keine Geschlechtsteile in die Luft sprengen!
Du sollst niemanden in Kartoffelsäcke stopfen!
Du sollst keine Sonnenstudios ausräuchern!
Du sollst nicht des Nachbarn Haus anzünden!
Ich habe vorab versucht, mir ein Bild vom niederbayrischen Berserker zu malen. Richtig, ich hatte ihm bereits gegenübergestanden. Doch das ist viele Wochen her, und sein inneres Wesen ließ sich in diesem kurzen Augenblick nicht erforschen. Wenn ich die Latte seiner Straftaten sehe, kommen mir automatisch üble Psychopathen aus Film und Fernsehen in den Sinn. Freddy Krüger aus »Nightmare on Elmstreet«, Jason Voorhees aus »Freitag der 13.«, Michael Myers aus »Halloween«, Josef Fritzl aus Amstetten. Vielleicht sollte ich das Paket doch einfach abgeben und mich, diese Geschichte endgültig hinter mir lassend, aus dem Staub machen.
Aber zu spät.
Ein Vollzugsbeamter, der so dick ist, als hätte man zwei Männer in eine Haut gestopft, lotst mich in ein Besucherzimmer. Es riecht modrig und nach kaltem Essen. Die billigen Holzmöbel verströmen Krankenhauscharme.
An den Wänden hängen Aquarelle, die einige Sozialarbeiterinnen mit weltfremden Idealen bepinselt haben. Blumensträuße und Sommerwiesen sollen Gefangene wie deren Besucher froh und munter stimmen. Aber das ist alles so dilettantisch grauenhaft ausgeführt, dass man mit Messern darauf werfen will. Der Anblick dieser Bilder erzeugt Wut, Hass und Kriminalität, bin ich mir sicher. Wer noch kein Mörder oder Psychopath ist, der wird es spätestens jetzt. Ich konzentriere mich wieder auf meine Aufgabe. Lächle dem Fettsack in Uniform zu. Er schwitzt zurück.
Nachdem mein Paket als ungefährlich sonographiert wurde, Inhalt »Blechbehälter/Papier/vier Bleistifte« – interessant – warte ich auf einen irren Mörder.
Und da schlurft er schon zur Tür herein. August Locher, der Berserker aus Niederbayern. Ich erhebe mich von meinem Stuhl. Aus Anstand oder um eine optimale Fluchtposition einzunehmen, ich weiß es nicht.
»Guten Tag. Ich bin… äh… hoffentlich…Wer sind Sie?«
Vor mir steht ein gedrungener Fastvierziger, und ich kann mich erinnern, dass ich diesen Heinz-Erhardt-Verschnitt schon in den Alpen für äußerst ungefährlich hielt. Aber Achtung: Fritz Haarmann alias der Vampir von Hannover war die Statur betreffend keine imposante Erscheinung. Und doch gefährlich wie der Boandlkramer selbst.
»Verzeihung, August Locher.«
Er weiß offenbar nicht recht, ob er mir die Hand zum Gruß anbieten soll. Ich muss lachen. August Lochers Mundwinkel verziehen sich leicht. Ein weiches Gesicht. Bar jeglicher Härte. Ich gewinne Vertrauen.
»Joseph Schmidt«, kracht es entschlossen aus mir heraus. Ich ergreife seine Hand, die durchaus einen festen Widerhall fabriziert. Ich nicke dem aufgeblähten Vollzugsbeamten zu. Soll heißen: Alles im Griff. Sie können gehen. Weder verzieht er das Gesicht, noch lässt er uns allein.
»August. August Locher. Ich äh… äh… ich bin gespannt…«
»… warum ich Sie besuche?« Ich schiebe ihm das Paket über den Tisch und erkläre:
»Dieser Brief, Herr Locher…«
Er unterbricht mich.
»Sagen Sie doch August zu mir. Und du. Oder?«
»Selbstverständlich. Joseph. Bitte Joseph. Also, dieser Brief ist an Sie… äh… dich adressiert. Ich habe ihn unter höchst mysteriösen Umständen… na ja… erhalten.« Ich schiebe ihm den Umschlag buchstäblich in die Hände. Ich bin nervöser als er. Locher ist abwartend, verständlich.
»Wo haben Sie den her?« Er dreht das Paket wie eine Glaskugel, die ihm ein Geheimnis verklickern könnte. Ich bleibe stumm.
»Kein Absender.« Seine Pupillen fangen die Schrift auf, die seinen Namen zeichnet. Ich erkenne eine kleine Explosion in seinen
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