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Grimms Erben

Grimms Erben

Titel: Grimms Erben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Weber
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gezogene Kreuze, Kreise und gestrichelte Linien verwandeln die Karte in eine wirre Schatzkarte. Er sucht etwas, das ist sicher.
    »Ich suche etwas. Besser gesagt: Jemanden. Kennen Sie sich hier aus?« Bevor ich verneinen kann, fährt er schon fort. »Ich suche die Mandlhütte. Ich muss ziemlich nah dran sein. Wissen Sie zufällig, wo sie ist? Hier in der Nähe? Hab unten im Tal und an der Coburger Hütte nachgefragt. Müsste eine gewöhnliche Berghütte sein.«
    Nein, mein Freund, an der Berghütte ist nichts, aber auch gar nichts gewöhnlich.
    Ich mustere den Sonderling. Ich sehe in sein schwitzendes Gesicht. Ich bin kein guter Menschenkenner, aber das könnte tatsächlich dieser Märchenfreak sein. Eine groteske Erscheinung. Er erinnert mich an Oliver Hardy, der die Dieter-Krebs-Sketchup-Brille trägt. Rasch kombiniere ich: Falls dies der gesuchte Märchenfreak ist, dann ist es auch gleichzeitig der gesuchte Amokläufer. Für gewöhnlich müsste ich es mit der Angst bekommen, aber dieser Typ hat gleichzeitig etwas Heinz-Erhardtisches, also Harmloses an sich.
    Das Bild des erschossenen Hüttenbesitzers blitzt auf. Zusammen mit einem persönlichen Rat von mir an mich: Zieh Leine! Sofort!
    »Es tut mir sehr leid, ich bin weder von hier, noch kenne ich die Mandlhütte. Guten Tag.«
    Gelogen. Aber wahr ist, dass ich die MANDLHÜTTE gerne nicht kennengelernt hätte. Was will der Freak von dem alten Mann? Verdammt, ist er doch ein Bulle? Schnellen Schrittes stolpere ich Olsen hinterher. Talabwärts. In Doppelzeitraffer.

    Siebzehne — Go North!
    Vor einer Metzgerei namens »Razenberger« spricht Olsen zum ersten Mal wieder mit mir. Zweieinhalb Stunden hat unser Abstieg gedauert. Panisch, wortlos sind wir ins Tal abgestiegen.
    »Olsen. Was wollen wir tun? Wollen wir zur Polizei? Lassen wir Jürgen das Ganze aufdecken? Wir könnten einen anonymen Hinweis abgeben. Olsen, ich bin mir sicher, dass wir es nicht waren.« Wobei es mich immer noch beschäftigt, warum Olsen die genaue Bezeichnung der Tatwaffe kannte.
    »Olsen. Was ist los? Bitte, sprich mit mir!«
    »Würstchen.«
    »Was?« Ich schaue ihn verdutzt an.
    »Frankfurter Würstchen und Laugengebäck. Ich habe Hunger. Und Bier. Viel Bier. Zum Abschalten.«
    Ehrwald – Hamburg
    838 Kilometer
    7 Stunden 25 Minuten.
    Dieses Mal ohne Lügenduell. Ohne Oasis. Ohne Radio Watzmann. Monotone Fahrgeräusche innen. Verwischte Landschaften draußen. Mit wenigen Worten stricken wir ab München diesen Plan aus nicht unbedingt reißfester Wolle:
    Olsen und ich gehen nicht zur Polizei. Der Tote in der Hütte wird von Schutzmännern gefunden, die Jürgen benachrichtigt hat. Der Tote wird, da herrscht unter uns versicherte Einigkeit, als »der unheimliche Eremiten-Selbstmörder« in die Ehrwalder Kriminalhistorie eingehen. Mir kommt in den Sinn, dass am Ende der Märchenfreak auf frischer Tat ertappt werden könnte. Mir doch egal.
    Das Restrisiko von fünf Prozent, dass doch Olsen oder gar ich den Mann in den Bergen erschossen haben, wird für lebenslange moralische Gewissensbisse nicht ausreichen. Ich bitte Sie, können Sie zu hundert Prozent davon überzeugt sein, niemals Ihre Finger bei einem Mord, Totschlag oder Unfall mit Todesfolge im Spiel gehabt zu haben?
    Was war das für ein knirschendes Geräusch, als Sie im März’96 auf dem Saturnparkplatz mit Ihrem Automobil beim Ausparken erzeugt haben? Wohl nur ein Begrenzungspfosten. Oder nicht doch die Knochen eines Fußgängers? Sie haben bei Ihrem Pfingstferienbesuch im Schloss Neuschwanstein vom Turmzimmer einen hartgekauten Kaugummi aus dem Fenster gespuckt. Wissen Sie, zu welch tödlichem Geschoss dieser Kautschuk wird? Sicher, dass Sie unten im Schlosspark niemanden getroffen haben? Oder wie steht’s damit: Sie vergessen bei einem Picknick im Stadtpark ein scharfes Küchenmesser, das Sie zum Schneiden des Pecorino-Käses dabei hatten. An gleicher Stelle gerät Stunden später ein homosexuelles Paar in Streit. Der Mann findet Ihr vergessenes Messer und sticht im Affekt dem Mann in die Flanke. Selbst schuld, sagen Sie? Einspruch: Ihre Schuld! Können Sie nicht besser auf Ihr Messer aufpassen? Die Beispielpalette ist so unendlich wie tragisch.
    Ich scheiß auf die fünf Prozent, manch politische Partei wäre froh darum. Also, I am free. Deswegen sieht unser weiterer Plan vor, so zu tun, als sei nichts gewesen.
    Olsen und ich verkriechen uns auf die Yacht seines Vaters und zeichnen, entwerfen, skizzieren, malen, was die Erinnerung

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