Grimms Erben
Augen, die er selbst offenbar nicht spürt.
»Hören Sie…«, will ich übernehmen.
»Du. Wir waren beim Du«, sagt Locher, der nun interessiert seinen Namen und die Schrift auf dem Postumschlag studiert.
»Also pass auf«, sage ich. Ich tippe mit dem Zeigefinger auf das eingewickelte Blech. Ein dumpfes Klopfen ertönt. »Ich habe das Paket entdeckt. Ich bin unheimlich froh, dass ich es seinem Empfänger, also Ihnen… also dir… übergeben kann. Meine Mission endet hier.«
ooJoseph meldet sich ab. Seine Mission endet hier – welch weitere Form von gesprochenem Unrat.
»Falls du mich kontaktieren willst, weil du Fragen hast, dann kannst du das über diese Adresse tun.«
Auf einem kleinen Zettel habe ich eine eigens dafür angelegte E-Mail-Adresse gekritzelt. Distanz will ich wahren. Zu August Locher, zur ganzen Geschichte.
Obwohl… ein wenig Interesse wäre vorhanden. Aber nix da. Ich werde mich nicht offensiv darum bemühen zu erfahren, wie die Geschichte endet, um eventuell doch noch in eine große Scheiße zu schlittern. Unheimlich genug, das Ganze.
»Nur eine E-Mail-Adresse«, sage ich zu dem Wärter, der seine 140 Kilogramm vom Stuhl neben der Eingangstür hievt, um zu sehen, was hier »geschoben« wird.
»Das hätten Sie anmelden müssen«, weiß er laut Vorschrift. Egal ist es ihm trotzdem, er kommt nicht nachsehen, ob auch wirklich ein @ irgendwo zu lesen ist.
»Herr Schmidt, ich…«
»Joseph. Wir waren beim Du, vergessen?«
Jetzt lächelt er.
»Okay, Joseph. Du musst wissen, ich bekomme nicht oft Besuch. Ehrlich gesagt nie. Auch keine Anrufe oder Briefe. Ich hoffe, dein Anliegen ist kein dummer Streich.«
»Es ist mir nur ein Anliegen, dir das Paket zu überbringen. Der Inhalt ist mir gänzlich unbekannt. Ich hoffe für dich, dass es kein dummer Streich ist.«
Ich stehe auf, deute auf den Zettel mit meiner E-Mail-Adresse und verabschiede mich. Der Wärter steht ächzend auf.
DAS ist eine imposante Erscheinung, denke ich.
DER könnte Leute zerquetschen.
Als ich mich noch einmal zu Locher umdrehe, sitzt er immer noch am Tisch. Sein Blick ruht mit gesenktem Haupt auf der Adresse, die auf dem sonderbaren Postartikel geschrieben steht:
An
August Locher
Hinzestraße 12
»Der graue Wal«
94469 -9 Obermietraching
Da sieht er noch einmal zu mir herüber. In seinen Brillengläsern glitzert es, als ob sich darin Tränen fingen.
Der Brief
Mandlhütte, Sommer 2012
Lieber August,
Bitte erschrecke nicht!
Dir schreibt Dein Großvater Zacharias.
Wenn Du Dich jetzt fragst, warum der alte Depp erst jetzt schreibt, dann hast du vollkommen recht. Der alte Depp versucht es Dir zu erklären. Es wird nicht einfach werden. Die folgenden Zeilen zu schreiben, ist eine Qual.
Sie sind Entschuldigung, Überwindung, Aufklärung, Befreiung in einem. Aber auch eine Bitte.
Ich will Dir erklären, warum ich Dich vor Jahren verlassen habe. Aber vorneweg solltest Du eines wissen:
Ich habe Dich immer geliebt und tue es immer noch innigst, auch wenn es Dir anders erscheinen mag.
Ich ging, um einen Schwur zu halten.
Mein Bruder Ignaz und ich leisteten diesen Eid. Wir waren jung, und die bleierne Zeit seit 1933 und die Grauen des Zweiten Weltkrieges vernichteten jeglichen Gedanken an die Zukunft. Ich muss Dir nichts erklären. Oft genug redeten wir darüber. Nur verschwieg ich Dir einige private Details.
Ignaz und ich wollten uns gegen das Grauen stellen, uns ihm entziehen, nicht Teil davon sein, nicht kapitulieren. Genau deshalb schworen wir uns zwei Dinge.
1. Wir veröffentlichen ein Buch mit Ignaz’ Märchengeschichten.
2. Wir leben in den Bergen, um unerkannt den Krieg zu überstehen.
Beides zu schaffen war der Schwur. Ein trotziger, vielleicht auch dummer Eid, aber so war es nun mal. Damals hieß ich noch Buchmann.
Ignaz, der zwei Jahre jünger ist als ich, nannte mich immer Aki. Manchmal sagte er auch Scharlih zu mir – so wie Winnetou zu seinem Blutsbruder Old Shatterhand. Er war für mich öfter auch Pip, der kleine Schiffsjunge aus Moby Dick. Wir waren in jüngsten Jahren schon Büchernarren und für jede Heldengeschichte zu haben. Das kannst Du Dir sicher vorstellen. Vor allem für die Geschichten der Pequod um Kapitän Ahab und die Karl-May-Abenteuer. Deshalb auch der Wal, und unser Traum, irgendwann im Moby Dick zu leben. Dort wollten wir ungestört abtauchen, und der brutalen Welt der Erwachsenen unsere eigene, bessere entgegensetzen. Eine Fabelwelt aus Träumen und Geschichten.
Ignaz
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