Grimms Erben
Utopier Hunger leiden, wenn sie nichts zu phantasieren bekommen.«
Locher stutzt. Laut, obwohl das ja kaum geht. Ein ziemlich doofes »Hmmmm?« fällt ihm aus dem Mund. So eins, das am Anfang ganz tief und am Ende ganz hoch klingt. Ein Zwei-Oktaven-Hmmmm.
»Wussten Sie schon, dass das M.bei Boney M. für Boney M. Weissmüller steht?«
»Nein, nein, nein, Karl. Das davor. Wiederhole das davor«, drängt Locher. Er stupst ihn in die Seite. Höhe Rippenbogen. Von draußen schießt ein »Schwules Pack!« durch die Bretter. Die Sonderschüler. Locher kümmert es nicht. Nicht im Geringsten. Die Sonderschüler, Sie wissen schon, die Rotzbuben, Sie wissen schon, die aus der Tybbkestraße.
»Wiederhole das davor, Karl. Bitte.«
Doch Karl Rettig, der Fragenmann, hat für heute seine letzte Frage gestellt. Stumm erhebt er sich und verlässt die kleine Holzbibliothek. Wie ein Schlafwandler schreitet er auf Schienen. Wahrscheinlich nach Hause.
Locher bleibt sitzen. Die Vögel im Wald pfeifen ihn zum Abendessen. Er grübelt über Karls Worte, die für ihn einen enormen Tiefgang versteckt hielten. Wie war das?
Wussten Sie schon, dass Äthiopier Hunger leiden, wenn sie nichts zu essen bekommen, und Utopier Hunger leiden, wenn sie nichts zu phantasieren bekommen?
Ein Utopier, das ist er. Das ist, was er sein will. Ein Phantast. Ein Urheber von Traumwelten. Ein Wanderer durch Wunschbilder. Wie Winston Smith in Orwells »1984« in sein Tagebuch abtaucht, wie Bastian Balthasar Bux in Endes »Die unendlichen Geschichte« nach Phantasien reist, so begibt sich August Locher in seine ureigene Utopiewelt.
In der realen Welt ist er ein Verlierer und schwindender Aussatz. Welkes, dörres Trockenfleisch, schlaff und zäh. In der Wahrnehmung der meisten ein Wurmfortsatz. Keiner braucht ihn, und wenn er sich meldet, dann tut es weh.
In den fernen Abenteuerreisen, in den Büchern und Geschichten, da ist er gesund und umtriebig. Dort hat er Freunde, die ihn benötigen, und Feinde, die er besiegt.
Wieso kann das in der Wirklichkeit nicht sein?
Weil er die Wirklichkeit nicht braucht.
Weil er sich durch das wahre Leben bewegt, als wäre es eine Improvisation. Weil er wie eine Strichfigur durch eine illustrierte Illusion wandelt.
Weil er am Ruder eines Traumschiffes steht.
Er ist ein Phantast.
Er ist ein Eiferer.
Er ist: Der Utopier!
Im Bauch des grauen Wals
Die Wände im Inneren des Locher-Hauses sind für jeden Neuankömmling ungewöhnlich.
Auch August war zu Beginn seiner Ankunft im Jahre 1984 über das äußere und innere Erscheinungsbild des Wals verwundert. In all den Jahren wich dieses besondere Gefühl einer vertrauten und irgendwie logischen Wonne. Auf Augusts kindliche Frage, warum Zacharias diese ungewöhnliche architektonische Entscheidung traf, antwortete der Großvater: »Ganz egal ob man in Häusern, Zelten, Iglus oder Höhlen wohnt, Hauptsache ist, man baut sich Luftschlösser.«
Sehr richtig, dachte sich damals der junge August und wurde in seiner Phantasie zum Baumeister der phantastischsten Himmelsgebilde. Er war plötzlich sehr glücklich, in so einem abenteuerlichen Heim zu leben.
Locher liegt auch manchmal, so wie der Wal, den er bewohnt, ausgestreckt da. Muskelkomplettrelaxierend Klängen lauschend. Jazzmusik, die durch die räumliche Extravaganz des Raumes sogar richtig stark klingt, findet August.
Jazz ist groß – für Locher die einzige musikalische Zutat in seinem Einheitsbrei Leben. Jazzmusik ist weich, beruhigend und tiefsinnig, gleichzeitig eckig, zappelnd und stimulierend. Je nachdem, welcher Künstler das soeben vorgetragene Blech, Holz, Metall oder Perlmutt benützt.
Auf dem Plattenspieler dreht sich Dexter Gordon schwindlig und saxophoniert Cheesecake durch sein Horn. »Jaaawiiiiiiiduadididi« reißt »Long Tall Dexter« sein Instrument ans Mikro, das eine direkte Verbindung über Kabel zu Lochers staubigen, unmodernen Boxen zu haben scheint. Der Klang ist somit erdig, ehrlich und nostalgisch perfekt. Es würde im Auge des Betrachters liegen, ob eine bessere Hi-Fi-Anlage Locher noch mehr Genuss bringen würde. Es gibt aber keinen Betrachter. Hat es in Lochers Haus noch nicht gegeben. Außer den Fragenmann. Der vermeldete, als Locher ihm zum ersten Mal Jazz präsentierte, Folgendes.
»Wussten Sie schon, dass der Radetzkymarsch von Charlie >Bird< Parker in Großbuchstaben geschrieben wurde?«
Ohne Worte. Oder mit Worten, aber ohne Inhalt. Seltsam.
Eine Musikanlage aus den frühen Sechzigern
Weitere Kostenlose Bücher