Grimpow Das Geheimnis der Weisen
die ihr Gesicht mit einem Kopftuch verhüllte. Ihr Blick war durchdringend, geradezu aufwühlend, und ihre Augen waren so schwarz wie die Nacht.
»Komm her, mein Junge, und lass mich das Schicksal in deinen Händen lesen. Denn niemand außer mir kann darin sehen, was dir die Zukunft vorbehält«, sagte sie mit einer so einschmeichelnden Stimme, dass Grimpow wie hypnotisiert war.
Er trat ein Stück näher und streckte ihr die Hand entgegen. Er wusste nicht, weshalb, aber ihre Stimme war für ihn derart verlockend wie der Gesang von Sirenen. Dann kam ihm in den Sinn, wie sich Salietti vor Lachen ausgeschüttet hatte, als er beschrieb, was für eine dümmliche Miene Fenio de Vokko aufgesetzt hatte, während er ihm die Zukunft deutete. Sollte er sich wirklich von der abwegigen Vorstellung verleiten lassen, eine Zukunft kennenzulernen, die unsichtbar in seine Hand eingeschrieben war? Nein, er würde diesen verhexten Ort sofort verlassen und laufen, so schnell ihn seine Beine trugen. Aber da berührte ihn die junge Frau ganz zart und seine Haut überlief ein heißer Schauer, der unbekannte Träume und Wünsche in ihm wachrief.
»Du hast die Hände eines Prinzen«, säuselte die Unbekannte. »Aber eine edle Herkunft kann ich darin nicht erkennen.«
»Ich gehöre zu einer Karawane von Wanderschäfern«, log Grimpow im Bann der fremden schwarzen Augen. Die Wahrsagerin sah ihn an, ohne ein einziges Mal zu blinzeln.
»Du kommst von weit her. In dir mischen sich die Düfte von Kräutern und Blumen mit dem Geruch nach Rauch und Lagerfeuer«, behauptete die junge Frau und sog die Luft ein, als könnte sie so erraten, woher er stammte.
Der Knappe schwieg, in den Anblick der jungen Frau versunken, die angeblich in den Linien seiner Hand die unergründlichen Furchen seiner Vergangenheit erkannte.
»In dir ist auch viel alter Kummer, eine Trauer über Verstorbene und die Bitterkeit früherer Tränen.«
Die junge Frau ließ ihren Zeigefinger so sachte wie eine Liebkosung über Grimpows Hand gleiten und er empfand einen wohligen Schauer. Der Knappe fragte sich, ob diese Empfindung wohl wie die süßen Zärtlichkeiten waren, von denen ihm Pelin de Langfort schon so viel erzählt hatte und nach denen er selbst sich verzehrte.
»Meine Mutter ist lange tot«, log Grimpow weiter und ihn überlief eine Gänsehaut.
»Dennoch wirst du nicht von Einsamkeit begleitet. Deine Reisegesellen beschützen dich und scheinen wie zwei Vögel auf der Schnur deines glücklichen Lebensweges auf und ab zu hüpfen.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Grimpow.
»Viele bewachen dich, auch wenn sie nicht da sind, um dir zur Seite zu stehen«, erklärte die Frau. Dann versank sie in ein langes Schweigen, schloss die Augen, als wollte sie über die Grenzen der Wirklichkeit hinausblicken, und sagte schließlich: »In deinem Kopf überschlagen sich wirre Fragen ohne Antworten. Du hoffst, sie bei der Betrachtung des Universums zu klären.« Während sie sprach, wurde ihre Miene auf einmal ganz ernst und tiefsinnig.
»Wer seid ihr? Was wollt ihr von mir?«, stammelte Grimpow verunsichert.
Trotz der dröhnenden Trommeln kam es ihm so vor, als wäre die ganze Stadt verstummt und nur er allein könnte die Stimme jener Fremden hören. Sogar der wahnwitzige Tumult der um ihn herumtanzenden maskierten Menschen mit den Fackeln erschien ihm plötzlich still und stumm wie ein Trugbild. Er sah die ausladenden Gebärden, das überstürzte Hasten und das übertriebene Fuchteln ihrer Hände im Schein der Fackeln, dennoch hörte er nichts als das Gesäusel der eindringlichen Worte jener jungen Fremden.
»Geh zum Münster und schlage dreimal an das rechte Portal, dort, wo sich die Steinbildnisse der drei weisen Jungfrauen befinden«, sagte sie, ohne seine Hand loszulassen. »Jemand, den du suchst, möchte mit dir sprechen. Aber geh alleine. Geht jemand mit dir oder folgt dir, wirst du denjenigen nicht mehr finden.«
Mit diesen Worten streichelte sie Grimpow noch einmal über die Hand, als wollte sie ihm eine letzte Liebenswürdigkeit erweisen, dann verschwand sie in der ausgelassenen Menschenmenge, die um ihn herumtanzte.
Vom Kanal aus erblickte der Knappe im fahlen Mondlicht die Silhouette des Straßburger Münsters. Er hielt nach Jan Ausschau, doch die Menschenmenge war zu einer undurchdringlichen Masse gesichtsloser Körper angewachsen und schien sich am Getöse eines dämonischen Rituals zu berauschen, in das der Bischof einwilligte, um den sündigen Seelen
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