Grimpow Das Geheimnis der Weisen
noch einmal aufs Spiel setzen.
Als der zweite Reisetag sich seinem Ende zuneigte, entdeckten sie am Horizont Chalons, wo der nördliche Weg nach Reims abzweigte und die Westroute nach Paris weiterführte. Die kleine, beschauliche Stadt lag am Ufer der wasserreichen Marne und war umgeben von der endlosen Weite einer Sumpflandschaft voller Wasservögel, die bei sinkender Sonne schnatternd und kreischend in großen Schwärmen über die Feuchtgebiete flogen. Über den Dächern der Fachwerkhäuser sahen sie die Türme der Kathedrale und einer weiteren Kirche aufragen, die dem Städtchen einen wohlhabenden, vornehmen Anstrich verliehen.
»Ihr seid also sicher, dass unser nächstes Ziel auf der unsichtbaren Landkarte Paris ist und nicht Reims? Hier steht nämlich auch eine prächtige Kathedrale, in der sogar die letzten französischen Könige in allem Prunk ihres herrlichen Hofstaats gekrönt wurden. Damit wäre es jedenfalls nicht der schlechteste Ort, um solch einen kostbaren Schatz zu verbergen«, befand Salietti.
»Aidor Bilbicums Handschrift ist trotz seiner schwer zugänglichen Botschaft und seiner Undurchschaubarkeit in diesem Punkt eindeutig. Erinnere dich an den Text, da steht, dass uns der Unsichtbare Weg zur Insel Ipsar führt, also nach Paris, wo Fabelwesen und Ungeheuer wohnen...«, setzte Weynelle an.
Salietti fiel ihr ins Wort. »Aber wo sollen denn auf der Pariser Insel diese Fabelwesen wohnen?«, entfuhr es ihm.
»Lassen wir uns überraschen«, schlug Weynelle vor und behielt ihre Vermutungen für sich.
»Ich frage mich allerdings auch, wo wir den Teufel finden sollen und wie wir ihm entgegentreten können«, brachte nun auch Grimpow seine Zweifel zum Ausdruck.
»Bisher ist es uns gelungen, alle Rätsel zu lösen. Und wir wussten nie, was uns erwartet, bevor wir direkt davorstanden. Wir werden zu gegebener Zeit mehr wissen, davon bin ich überzeugt«, beruhigte ihn das junge Mädchen.
»Das stimmt, aber jedes Rätsel ist schwieriger als das vorangehende und diesmal kann uns Humius nicht helfen. Ob wir ohne ihn herausgefunden hätten, dass der Unsichtbare Weg im Sternbild Jungfrau angelegt ist? Wohl kaum«, gab Grimpow zu bedenken, obwohl er große Hochachtung für Weynelles Überlegenheit und Scharfsinn empfand.
»Wenn die Theorie meines Vaters zutrifft, dann muss das Geheimnis der Weisen in einer dieser Städte zu finden sein. Der Schlüssel dazu steht in Aidor Bilbicums Buch. Wir müssen den Text nur richtig deuten.«
»Ich hoffe bloß, dass wir nicht wieder in eine Falle geraten wie in der versiegelten Kammer«, sagte Grimpow bang.
»Immerhin habt ihr diesmal mich an eurer Seite und ich werde euch gegen jede drohende Gefahr verteidigen. Ein Schwert werde ich noch führen können, zur Lösung der Rätsel werde ich allerdings nicht viel beitragen können, fürchte ich«, ließ sich nun Salietti vernehmen.
»Mach dir darüber keine Gedanken. Wir sind heilfroh, dass du wieder bei uns bist, trotz deiner Schwerfälligkeit«, sagte Grimpow fröhlich.
»Ja, das ist wohl wahr«, bestätigte Weynelle und reichte dem Ritter mit einem Lächeln die Hand, das aber sofort in Besorgnis umschlug, als sie nicht allzu weit entfernt eine Gruppe von Kapuzenträgern entdeckten.
Salietti bedeutete ihnen, die Stimmen zu senken.
»Sie sehen aus wie Bettelmönche«, urteilte Grimpow und kniff die Augen zusammen, um die Wanderer in der Abenddämmerung besser zu erkennen.
»Ich reite voraus und sehe nach, wer sie sind«, beschloss der Ritter, gab seinem Pferd die Sporen und stob davon.
Weynelle und Grimpow verkrochen sich unterdessen im hohen Dickicht, das sie umgab.
Es war eine kleine Gruppe von Aussätzigen, die ziellos umherirrten, nachdem der Bischof von Reims sie aus ihrer Zuflucht in den umliegenden Höhlen vertrieben hatte. Auf Saliettis Zeichen hin kamen Weynelle und Grimpow aus dem Gebüsch und trabten herbei. Als die Aussätzigen die beiden Begleiter des Ritters sahen, hoben sie den Blick, verhüllten aber ihre entstellten Gesichter mit vor Schmutz starren Kapuzenumhängen.
»Weshalb hat Euch der Bischof aus eurer Bleibe vertrieben?«, fragte Salietti laut.
Als die Männer eisern schwiegen, ergriff eine stämmige Frau das Wort. Unter ihrer Kapuze war nur ein Paar trauriger Augen zu sehen. »Der Bischof von Reims behauptet, unsere Krankheit sei die Strafe Gottes für unsere Sünden«, erklärte sie. »Er wirft uns Hexenkünste vor und dass wir die gottesfürchtigen Kathedralenbesucher, an deren Türen
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