Grippe
glaubte sie jedenfalls nicht. So verzweifelt war sie weiß Gott noch nicht. Die Bücher von C. S. Lewis, die sie als Kind gelesen hatte, waren Fiktion, und Märchen ebenfalls erfunden, nicht wahr? Sicher, und Monster hatten auch nichts mit der Realität zu tun.
Oder?
Sie befühlte bekannte Gegenstände: Staubsauger, Fahrradreifen, Schuhe, abgegriffenes Werkzeug und etwas … Komisches, das sie wirklich nicht identifizieren konnte und wollte. Schließlich fand sie eine Dose, die beim Schütteln rappelte. Kleingeld. Intuitiv langte Geri hinein und bekam glattes Metall zu fassen, dem ihre nicht ans Dunkle gewöhnten Sinne die Beschaffenheit einer Patrone zumaßen. Sie hatte ja Filme gesehen und wusste, wie die Dinger aussahen. Anfühlen mochten sie sich etwa so. Ja doch, passte definitiv. Rasch steckte sie das Projektil vorn in die Tasche ihrer hautengen Jeans und zog, da es sich unterm Stoff abzeichnete, ihr T-Shirt darüber.
Als man aufsperrte, erschrak sie. Nachdem sie die Dose in die Ecke geworfen hatte, griff sie wieder zum Stiel und machte sich gefasst.
»Moment«, sprach Sturmhaube und ging einen Schritt zurück, um auf die Kammer zu zielen. »Falls sie sich verwandelt hat in …«
Tattoo seufzte wieder und schloss auf.
»Bereit?«, fragte er seinen Freund.
»Jepp«, bestätigte der.
Tattoo warf die Tür weit auf, als wolle er das Mädchen überraschen, doch das genaue Gegenteil traf ein: Der Kerl bekam flugs zu spüren, wie es sich anfühlte, wenn jemand Billard mit seinen Weichteilen spielte. Er stolperte zurück, während der allzu eindrückliche Schmerz gequetschter Hoden ihm sowohl in die Beine als auch den Bauch ging, dass er sich krummmachen musste.
Sturmhaube zauderte, statt zu schießen; konnte ja sein, dass er seinen Freund traf. Diese Sekunde des Zögerns genügte dem Mädchen: Sie schwang den Besenstiel und schlug mit regelrechter Urgewalt gegen seinen Kiefer. So knallte der Stämmigere der beiden gegen die Wand des Flures, an der geschmacklose Magnolientapete klebte. Dazed and Confused.
Sofort ließ sie ihre Waffe fallen und stürzte sich auf ihn. Groß wie sie war, musste sie sich tief über den gedrungenen Kerl beugen, um die Kanone wegzunehmen. Sturmhaube wehrte sich vehement und stierte panisch, da ihm die Aussicht auf eine mögliche Infizierung – Schockschwerenot! – den Verstand raubte. Er fing an, wie ein kleines Gör zu kreischen. Sie schrie ebenfalls, was im Einklang wirkte, als stimmten sie ein wahnwitziges Death-Metal-Duett an.
Ihre Überlegenheit war allerdings nur von kurzer Dauer. Der Stiel, dessentwegen Tattoo zuvor noch vor Schmerz die Augen hervorgetreten und die Gesichtszüge entgleist waren, gereichte ihm nun zum Vorteil. Rachsüchtig holte er aus und traf sie am Kiefer, dass sie einen Zahn verlor. Der Schlag warf sie von Sturmhaube hinunter, und sie taumelte durch den Flur Richtung Küche. Sie fiel lang ausgestreckt durch die geöffnete Tür und kam im Rahmen zum Liegen. Knockout.
3
Karen Wilson schaute aus dem Fenster ihrer Wohnung in einem der oberen Stockwerke eines Apartmenthauses in Finaghy. Die Aussicht war atemberaubend – klarer, blauer Himmel, so weit das Auge reichte, darunter ein Patchwork aus Schornsteinen und Dachschiefer, feuerroten Ziegeln und weißem, staubtrockenen Verputz sowie grünen Gärten und bunten Blumenbeeten.
Und Hunderte Tote. Voranschreitende Tote.
Als die Tür hinter ihr aufging, fuhr sie zusammen, doch es war bloß Pat, der einen großen Koffer hereinrollte. Schwer musste das Teil sein anhand des Schweißes, der auf seiner durchweg in Falten liegenden Stirn ausgebrochen war.
»Mann, hast du mich erschreckt«, maulte Karen und fuhr sich wie zur Beruhigung mit der Hand an das klopfende Herz.
»Hast du das Auto nicht gehört?«, fragte er, ohne sie anzuschauen. Er war kein Mann vieler Worte, wie sie nach Wochen in seiner Obhut wusste. Heute natürlich war er ein Mann mit einer Aufgabe, und wie es schien, hatte er sein Ziel erreicht. Er fuhr den nagelneu aussehenden Koffer in die Mitte des Zimmers.
»Ja, aber das ist Minuten her. Weshalb hast du so lange gebraucht?«
»Fahrstuhl im Eimer«, gab Pat an. »Ich musste das Ding die Treppe hochschleppen.« Er warf ihr einen kurzen Blick zu und fügte an: »Ist schwer.«
Dabei hatte der Aufzug ihres Wissens nach bis jetzt funktioniert. Weder sie noch Pat konnten es nachvollziehen, doch er war weitergelaufen, als Fernsehen, Heizung, Gasherd und Telefon längst den Geist aufgegeben
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