Grippe
Nachdruck.
4
Major Connor Jackson konnte die Augen nicht vom Türfenster der Großraumlimousine abwenden, in der er den Motorway M1 entlangfuhr. Sie waren unterwegs nach Portadown, eine Stadt etwa dreißig Meilen südlich von Belfast. Sein Fahrer gab sich angesichts der alptraumartigen Szenerie erwartungsgemäß einsilbig. Eine Reise über eine postapokalyptische Schnellstraße gab nicht viel Stoff für einen lockeren Plausch her. Hier ein liegengebliebenes Fahrzeug, ein kleiner Auffahrunfall dort, belaubte Felder, auf denen Vieh zwischen Kadavern von Artgenossen graste. Der Fahrer tat gut daran, jedes Hindernis bewundernswert ruhig und vorausschauend abzuschätzen.
Der rote Streifen, der sich am Himmel angedeutet hatte, als Jackson bei Tagesanbruch losgefahren war, wuchs sich allmählich zu einem rosigen Morgengrauen aus. Die Sonne war schon fast zur Gänze aufgegangen, und er fragte sich, ob sie einen weiteren glorreichen Tag erleben würden. Das Wetter passte bereits, doch es sollte tatsächlich der einzige Lichtblick an diesem Tag bleiben – und nebenbei bemerkt an allen weiteren.
Jackson war eigentlich niemand, der bereitwillig Trübsal blies, zumindest nicht während der vergangenen Jahre. Nachdem er früh in den Ruhestand getreten war, hatte er die meiste Zeit mit den Kids seiner Tochter verbracht und den stolzen Großpapa gemimt. Die Einzigen, die ihn noch Major nannten, waren die alten Boys drüben im Legion, die kaum mehr aus ihrer Dienstzeit miteinander verband als eine Reihe zotiger Witze. Bis das hier angefangen hatte, war Jackson ziemlich glücklich gewesen, hatte von März bis September in seiner Sommerresidenz in Donegal die Zeit totgeschlagen – und Wespen –, um den Winter in seinem Reihenhaus in Derry vor der Mattscheibe zu verbringen. Ein gefälliger Pub schien nie allzu weit entfernt, ob Paddy ’ s Bar in Glenties oder eben das Legion in Waterside. Stets fand sich ein Zapfhahn oder eine Flasche Whisky, die man an gegebenen Abenden in geselliger Runde durchreichen konnte. Und damit begnügte sich Jackson. Er brauchte bloß Ablenkung – etwas, das ihn die schlechten Zeiten vergessen ließ, seine dunkle Vergangenheit im rauen Norden, wo er eine zutiefst schaurige Rolle gespielt hatte.
Er war in Derry hinterm Haus gewesen, als sein Handy geläutet hatte. Dorthin war er zurückgekehrt in der Hoffnung, seine Tochter und die Kinder mit nach Donegal nehmen zu können. Als er »Nummer unterdrückt« auf dem Display gelesen hatte, war ihm klar gewesen, dass jemand von der Armee anrief – und als der Sprecher am anderen Ende der Leitung, ein junger Mann namens Harris, ihn ›Major Jackson‹ genannt hatte, wurden seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt.
Man ließ ihn unter der Prämisse nach Donegal zurückkehren, dass er sie sofort von dort aus kontaktierte. Er erhielt eine Geheimnummer und wurde angehalten, zu einer bestimmten Zeit anzurufen, um seinen Standort zu bestätigen. Ein Hubschrauber würde ihn dann abholen und zum Luftwaffenstützpunkt Aldergrove fliegen. Von dort aus sollte die Reise zu einer besonderen Einsatzbesprechung nach London gehen. Allerdings verlief nicht alles wie vorgesehen. Die Grippe wütete so furios und dezimierte die Bevölkerung derart rasch, dass man Aldergrove während Jacksons Aufenthalt abriegeln musste. Wochen vergingen, ohne dass jemand ihn über die Geschehnisse in Kenntnis setzte. Er verfolgte im Fernsehen von seinem abgedunkelten Quartier aus mit, wie der stete Nachrichtenstrom aller Programme herben Debatten wich, bis schlussendlich allein das Standbild des Notrufkanals ausgestrahlt wurde.
Als das Virus sie dann erreichte und die Leute in der Basis krank wurden, war Jackson weder überrascht noch besorgt. Nein, gewissermaßen war er froh, dass überhaupt etwas passierte. Wo seine alten Filmklassiker jedoch stets ›Frauen und Kinder zuerst‹ verlautbart hatten, galten beim Militär andere Regeln. Als Major brachte man ihn in einem abgesicherten Bereich des Stützpunkts unter, wo er sich gemeinsam mit anderen hochrangigen Offizieren die Zeit beim Schachspielen verkürzte oder einen Whisky nach dem anderen kippte. Essen und Trinken – eingedenk beträchtlicher Mengen Alkohol – wurde täglich von Männern in gelben Anzügen geliefert. Alles, was diese im Gegenzug verlangten, waren Ratschläge: Wie sollten sie mit den Scharen kranker Leute umgehen, die ununterbrochen vor den Zäunen um Medikamente bettelten? Was tun, wenn es weder Gegenmittel noch
Weitere Kostenlose Bücher