Grippe
– natürlich ein aufstrebender Neuling, der noch nichts von der Welt gesehen hatte – war nur dazu bereit gewesen, wenn Pat zum Psychiater ging. Zunächst gab er widerwillig statt, doch die vierzehntägige Sprechstunde sollte sich rasch als echter Glücksfall herausstellen. Pat war nicht so dumm, seine Taten beziehungsweise das, was andere mit ihm angestellt hatten, direkt anzusprechen. Stattdessen beließ er es bei Dingen, die er angeblich nur gesehen hatte, und da er sich bezüglich seiner Menschenkenntnis schon immer recht sicher war, konnte er mit ziemlicher Gewissheit sagen, dass der in Ehren ergraute Engländer mit der Hornbrille, der ihn therapierte, genau wusste, wie der Hase lief. Über all das sprechen zu können, den Ballast abzuwälzen, half ihm wirklich sehr. Über den Tod zu reden, ihn zu verstehen und was er selbst damit zu tun hatte. Zu verarbeiten – die Tode derjenigen, die er gekannt und geliebt hatte, aber auch die der Bekannten und Geliebten anderer. Und jetzt? Jetzt war er urplötzlich umringt vom Tod, steckte wieder knietief drin. Diesem unschuldigen, jungen Ding brachte er sogar bei, wie man jemanden umbrachte. Der Tod fing an, ihn aufzufressen.
Auf dem Weg zurück über den Flur betrachtete er sie. Sie war enttäuscht, weil sie nicht getroffen hatte. Die Schusshand hing schlaff an ihrem Oberschenkel, als sei es ihr peinlich – peinlich, verfehlt zu haben und nicht getötet. Pat fragte sich, ob er das Richtige tat, indem er Karen umkrempelte zu jemandem, der sie andernfalls nie geworden wäre. Ein besonders dunkler Teil seiner Seele erwog sogar, ob es nicht besser sei, sie zu töten, statt ihr zu zeigen, wie man tötet – wie sie selbst töten sollte. Horchte er jedoch tief in sich hinein, war ihm klar, dass er ihr eine Möglichkeit geben musste, sich zu verteidigen und ihr Leben zu verlängern. In einer Welt, in der längst die Toten den Ton angaben.
Und natürlich gab es noch einen anderen Grund, einen viel persönlicheren. Karen war eine Seltenheit im wahrsten Sinn des Wortes: Sie war Pat ans Herz gewachsen, als sei sie sein Kind, und was ihm etwas bedeutete, musste er schützen.
Dies hatte er bereits lernen müssen. Auf die harte Tour.
Genau zur gleichen Zeit zwei Tage später standen die beiden vor der Tür einer der anderen Wohnungen in ihrem Haus. Die zwei Stockwerke oberhalb hatten sie schon abgegrast, jede der verlassenen Räume geplündert und ihren Rollkoffer dabei mehrmals gefüllt. Pats Rücken schmerzte höllisch, nachdem er das Ding wiederholt zurück in den zehnten Stock geschleppt hatte, doch der Inhalt war die Mühe wert. Sie hatten ihre Schränke soweit mit Konserven und Getränken auffüllen können, dass sie mindestens einen Monat lang versorgt waren. Die versiegelten Wohnungen hatten sie natürlich gemieden. Das vom Blut erstickte Schnüffeln hörten sie deutlich genug, um sich nicht an den Metallplatten zu schaffen zu machen, mit denen die Türen verschweißt waren. Bei ihrem Unterfangen hatten sie keine unliebsamen Überraschungen erlebt.
Bisher.
»Okay, das ist die Letzte für heute«, beschloss Pat. »Mein Kreuz bringt mich um.«
Karen trat vor die Tür und hielt die Pistole im Anschlag.
Pat seufzte, indem er einmal mehr den Lauf umschloss und sie entsicherte.
»Ups«, machte sie leise.
»Nicht schlimm«, entgegnete er mit einem matten Lächeln.
Pat checkte seine eigene 9mm, ehe er sich nach vorn beugte, um die Wohnungstür leise zu öffnen. Dass sie nicht verschlossen war, machte ihn stutzig, denn andere hatten sie aufbrechen müssen. Diese also nicht; definitiv ein schlechtes Zeichen.
Pat nahm an, dass sich die meisten Anlieger aus dem Staub gemacht und den Großteil ihrer Habe weggesperrt hatten, ehe das Schlimmste über Belfast hereingebrochen war. Er wusste etwas von Rettungslagern, von denen man erzählt hatte, als die Seuche auf ihrem Höhepunkt grassierte, also lange nachdem sich die Kanäle auf kaum mehr als die Ausstrahlung des Notruf-Standbildes verlegt hatten, das sich in den Pupillen eingebrannt hatte. Klar, Gerüchten zufolge waren jene vermeintlichen Rettungshorte nur unwesentlich einladender als Konzentrationslager. Auf seinem Weg hatte Pat sogar Überlebende getroffen, die zur gleichen Zeit dort ausgebrochen waren, da Gerüchte von staatlich angeordneten Exekutionen die Runde machten. Jemanden wie Pat Flynn wunderte dies im Zusammenhang mit der britischen Regierung keineswegs. Vielmehr bestätigte es ihn in seinen politischen
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