Grippe
nahmen allmählich auf den Fluren überhand, und sie schrieb sich hinters Ohr, irgendwann den Putzlappen zu schwingen; das würde ihr wenigstens die Zeit vertreiben. Sie stiegen hinauf ins Dachgeschoss. Am Ende des Korridors befand sich die Tür eines Wartungsraumes. Karen hatte sich nie gefragt, was sich dahinter verbarg oder wohin sie führte, aber jetzt würde sie es erfahren.
Pat probierte ein paar Schlüssel aus, bis er den passenden fand und die Tür öffnete. Eine Abstellkammer. Er ging hindurch, dann drehte er sich nach Karen um.
»Komm ruhig. Ist sicher«, versprach er mit einem diebischen Grinsen, als täten sie gerade etwas Unlaubtes. Auf einmal erinnerte er sie an ihren Bruder, als sie noch klein gewesen war. Er hatte ihr regelmäßig abgeschiedene Orte gezeigt, feudale Anwesen mit labyrinthischen Gärten und verheißungsvollen Toren. Steinbrüche mit steilen Kliffs, die reiche Schätze versprachen. Jedes Verbotsschild umgab ein Ruch von Gefahr.
Sie folgte ihm zögerlich. Ihre Neugier war geweckt, soviel stand fest, doch andererseits fühlte sie sich mehr als nur leicht verunsichert, weil dieses Verhalten Pat nicht ähnlich sah. Karen wurde schlagartig bewusst, dass sie überhaupt nichts über ihn wusste; sie kannte ihn nicht wirklich. Als sie dann ein Hinweisschild mit der Aufschrift Nur für Befugte sah, erschrak sie. Es machte ihr vielleicht sogar mehr Angst als die Toten. Das Gefühl verflüchtigte sich schnell, und schon wurde er wieder zu ihrem Beschützer – dem Mann, der für sie sorgte.
Ihrem Vater?
Ihren leiblichen hatte sie nie richtig kennengelernt, weil er sich, als Karen noch nicht einmal zur Schule gegangen war, von Mom getrennt hatte. Vage erinnerte sie sich an laute Stimmen, die sie spät abends aus dem Erdgeschoss hörte, hysterisch schrill die ihrer Mutter, und ihres Vaters brummend tief. Irgendwann war er fort, und sie hatte seine Stimme nie wieder vernommen. Mehr noch: Gar nichts mehr war über ihn an ihr Ohr gedrungen. Es schien, als habe er nie existiert – als sei er nur ihrer Fantasie entsprungen, eine fiktive Figur aus einem Film im Gegensatz zu einem echten Dad.
Pat schob ausgedientes Werkzeug und Kisten zur Seite, um Karen den Weg freizumachen. Dann streckte er sich nach hinten aus, nahm ihren Arm und führte sie behutsam durch einen dunklen, stickigen Raum. Seine Hände fühlten sich so runzlig und zerfurcht an, wie sein Gesicht aussah. Brüchiges Zeitungspapier, das schon zu lange in der Sonne lag. In diesen Händen verspürte Karen eine seltsam nostalgische Freude, die sie kleiner und jünger zu machen schien. Ausflüge in die Stadt mit ihrem Großvater fielen ihr wieder ein, der hauptsächlich die Vaterrolle in ihrem Leben gespielt hatte, ehe sie auf Pat gestoßen war.
An der hinteren Mauer der Kammer gab es eine Metallleiter, die zu einer Falltür im Dach führte. Pat stieg rasch ein paar Sprossen hinauf und öffnete die Klappe. Das Blau des Himmels war so atemberaubend schön, wie Karen es noch nie gesehen hatte. Ein milder Wind wehte herein, als Pat den Kopf hinausstreckte.
»Genügt dir das als Abstecher nach draußen?« Er grinste, musste aber laut werden, weil es kräftig zog.
Karen lachte wie hingerissen bei einer Weihnachtsbescherung. Schnell kletterte sie hinauf und ließ sich von Pat auf das Dach des Hochhauses ziehen. Der Hauch des Windes im Gesicht verzückte sie. Ihr luftiges Kleid flatterte, und die Brise ließ keinen Teil ihres Körpers unberührt. Wie tausend Federn kitzelte sie die Härchen auf ihrer Haut. Die unverschleiert gleißende Sohne blendete auf angenehme Weise, und die frische Luft hinterließ einen Geschmack von Leben in ihrem Mund, nährte Körper und Seele mit jedem Atemzug, der ihre Lungen füllte.
Sie saugte all dies wie durch einen Strohhalm auf. Dort oben auf dem Dach schloss sie die Augen und streckte die Arme weit von sich – und fühlte sich fast frei.
10
»Also, wo seid ihr Jungs gewesen?«, fragte Lark, indem er seine fünfte Dose Bier zerdrückte und auf den Terrassenboden warf. »Du weißt schon: Seit die Scheiße angefangen hat …« Das Blech polterte über die Platten und blieb am Stiefel des Polizisten liegen. Lark hatte sie provozierend weggeschmissen und bewusst vor den Cop, als wolle er ihn verärgern.
Norman fixierte Lark mit einem Blick, der früher wohl eine Nacht im Kittchen bedeutet hätte.
»Hier und da«, antwortete er ausweichend. Dann knallte er sein Bier auf den Tisch, wie um dem Nachdruck zu
Weitere Kostenlose Bücher