Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Vater einen Arm an, während sich seine Mutter an den anderen klammerte, und sie verließen den Saal, ohne uns eines Blickes gewürdigt zu haben. Wassili folgte ihnen. Seine Miene war undurchdringlich, aber ich bemerkte das verräterische Zucken seiner Lippen.
Maljen und ich standen ratlos da. Es war natürlich schön, dass die Zarenfamilie für ein Wiedersehen im kleinen Kreis verschwand, aber was war mit uns? Man hatte uns weder entlassen noch zum Bleiben aufgefordert. Die Berater des Zaren betrachteten uns mit unverhüllter Neugier und die Höflinge tuschelten und kicherten. Ich zwang mich ruhig zu bleiben und reckte den Kopf auf eine Art, die, so hoffte ich jedenfalls, hochmütig wirkte.
Die Minuten schlichen dahin. Ich war hungrig und müde, und einer meiner Füße schien eingeschlafen zu sein, aber wir harrten aus. Irgendwann glaubte ich im Flur laute Stimmen zu hören. Vielleicht diskutierten sie, wie lange sie uns noch warten lassen konnten.
Nach einer guten Stunde kehrte die Zarenfamilie endlich zurück. Der Zar strahlte. Die Zarin war blass. Wassili sah erbost aus. Doch die auffälligste Veränderung war mit Nikolaj vorgegangen. Er wirkte lockerer und schritt so lässig aus wie damals auf der Wolkwolnij .
Sie wissen es , dachte ich plötzlich. Er hat ihnen erzählt, dass er Sturmhond ist.
Zar und Zarin nahmen wieder auf den Thronen Platz. Wassili stellte sich hinter seinen Vater, Nikolaj hinter seine Mutter. Sie tastete nach seiner Hand und er legte sie auf ihre Schulter. Wie eine Mutter mit ihrem Kind. Ich war zu alt, um mich nach Eltern zu sehnen, die ich nie gekannt hatte, aber diese Geste berührte mich.
Meine sentimentalen Gedanken verflogen schlagartig, als der Zar fragte: »Du willst trotz deiner jungen Jahre die Zweite Armee anführen?«
Er hatte jede Anrede ausgelassen. Ich senkte respektvoll den Kopf. »Ja, moj Tsar .«
»Ich bin versucht, dich sofort hinrichten zu lassen, aber mein Sohn scheint der Meinung zu sein, dass ich dich dadurch nur zu einer Märtyrerin machen würde.«
Ich erstarrte. Dem Asketen würde das gefallen , dachte ich angsterfüllt. Eine weitere heitere Illustration für das rote Büchlein: Sankta Alina am Galgen.
»Er hält dich für vertrauenswürdig«, sagte der Zar mit schwankender Stimme. »Ich bin mir da nicht so sicher. Die Geschichte deiner Flucht vor dem Dunklen klingt sehr weit hergeholt, aber ich kann nicht abstreiten, dass Rawka deiner Dienste bedarf.«
Er sprach zu mir wie zu einer Gärtnerin oder einer kleinen Beamtin vom Land. Reue zeigen , rief ich mir in Erinnerung und verkniff mir eine sarkastische Erwiderung.
»Wenn ich dem Zaren von Rawka dienen dürfte, wäre dies für mich die allergrößte Ehre«, sagte ich.
Entweder war der Zar sehr empfänglich für Schmeicheleien oder Nikolaj hatte sich mit meisterhaftem Geschick für mich eingesetzt, denn der Zar brummte und sagte: »Nun gut. Ich setze dich – vorläufig – als Kommandeurin der Grischa ein.«
Konnte es wirklich so einfach sein? »Ich … danke Euch, moj Tsar «, stammelte ich dankbar und verblüfft.
»Aber wisse dies«, sagte er und schwenkte einen Finger. »Beim geringsten Anzeichen dafür, dass du gegen mich aufbegehren willst oder in irgendeiner Form Kontakt mit dem Abtrünnigen hast, werde ich dich umstandslos und ohne Prozess aufknüpfen lassen.« Er hob die Stimme, klang aber nur nörgelnd und klagend. »Die Leute sagen, du seiest eine Heilige, aber in meinen Augen bist du nur ein weiterer zerlumpter Flüchtling. Hast du verstanden?«
Noch ein zerlumpter Flüchtling und deine größte Hoffnung auf den Erhalt deines strahlenden Throns , dachte ich und war überrascht von dem Zorn, der in mir aufwallte. Doch ich drängte meinen Stolz zurück und verneigte mich so tief wie möglich. Hatte der Dunkle auch das Gefühl gehabt, vor einem unentschlossenen Dummkopf dienern und buckeln zu müssen?
Der Zar winkte vage mit einer blau geäderten Hand. Wir waren entlassen. Ich sah kurz zu Maljen.
Nikolaj räusperte sich. »Vater«, sagte er, »da ist noch die Frage, was mit dem Fährtensucher geschehen soll.«
»Hmm?«, brummte der Zar und riss den Kopf hoch, als wäre er gerade eingedämmert. »Der …? Ach, ja.« Er richtete seinen wässrigen Blick auf Maljen und sagte gelangweilt: »Du hast deine Stellung unerlaubt verlassen und die Befehle deines Vorgesetzten mutwillig nicht befolgt. Darauf steht der Tod durch den Strang.«
Ich schnappte nach Luft. Maljen stand bewegungslos da.
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