Grisham, John
verschlief. Zu Mittag aß er meist in der Küche
der Kanzlei mit einer der Sekretärinnen.
Kyle schlüpfte aus seinen Schuhen, schlich die Treppe zu seinem Zimmer hinauf
und lag binnen fünf Minuten im Bett und träumte.
Keine fünf Stunden später trat sein Vater fast die Tür ein. "Aufstehen, du
Schlafmütze!", dröhnte er. "Ausruhen kannst du dich, wenn du tot
bist."
Kyle fischte alte Thermounterwäsche und Wollsocken aus einer Schublade und
holte seinen Jagdoverall aus dem Wandschrank, in dem Kleidung verstaubte, die
noch aus seinen Highschooltagen stammte. Ohne Frau im Haus gewannen Staub,
Spinnweben und alte Kleidungsstücke allmählich die Oberhand. Seine Stiefel
waren noch genau da, wo er sie an Thanksgiving vor einem Jahr hatte stehen
lassen.
John McAvoy saß am Küchentisch und traf seine Vorbereitungen für die Schlacht.
Drei Flinten mit Zielvorrichtung lagen bereit, daneben standen mehrere
Schachteln mit Munition. Kyle, der Kunst und Regeln der Jagd schon als Kind
erlernt hatte, wusste, dass sein Vater die Waffen am Vorabend gründlich
gereinigt hatte.
"Morgen,
Kyle. Bist du fertig?"
"Ja.
Wo ist der Kaffee?"
"In
der Thermoskanne. Wann bist du angekommen?"
"Erst
vor ein paar Stunden."
"Du
bist jung. Komm, wir fahren."
Sie luden die Ausrüstung in einen Ford Pick-up neueren Baujahrs mit
Allradantrieb, den John McAvoy auf den Straßen von York ebenso fuhr wie im
Gelände. Fünfzehn Minuten nachdem er aus dem Bett gekrochen war, ließ sich Kyle
durch den eisigen, dunklen Morgen kutschieren, trank schwarzen Kaffee und
knabberte an einem Müsliriegel. Bald hatten sie die Stadt hinter sich gelassen.
Die Straßen wurden schmaler.
John McAvoy, der an einer Zigarette zog, hatte das Fahrerfenster einen schmalen
Spalt geöffnet, um den Rauch hinauszulassen. Morgens war er grundsätzlich nicht
besonders gesprächig. Da er seine Tage in einer hektischen Kleinstadtkanzlei
verbrachte, in der ständig die Telefone klingelten, Mandanten etwas von ihm
wollten und Sekretärinnen herumliefen, brauchte er die Einsamkeit der frühen
Morgenstunden.
Obwohl Kyle noch halb schlief, traf ihn der Anblick der endlosen Weite, der
verlassenen Straßen, der menschenleeren Natur wie ein Schock. Was hatte er nur
jemals an der Großstadt gefunden? Sie hielten an einem niedrigen Tor. Kyle
öffnete es, John fuhr hindurch, und dann ging es noch weiter in die Hügel
hinein. Nach wie vor war im Osten keine Spur der aufgehenden Sonne zu
entdecken.
Schließlich brach Kyle das Schweigen. "Wie läuft's mit deiner neuen Liebe?"
Sein Vater hatte eine neue Freundin erwähnt, offenbar etwas Ernstes.
"Mal
so, mal so. Sie kocht heute Abend für uns."
"Wie
heißt sie eigentlich?"
"Zoe."
"Zoe?"
"Zoe.
Das ist Griechisch."
"Ist
sie Griechin?"
"Ihre
Mutter. Ihr Vater hat englische Vorfahren, aber ein paar andere Nationalitäten
waren auch dabei. Sie ist ein Mischling wie wir alle."
"Ist
sie hübsch?"
John
McAvoy hielt die Zigarette aus dem Fenster und klopfte die Asche ab.
"Glaubst du, ich wäre sonst mit ihr zusammen?"
"Ja.
Ich kann mich noch gut an Rhoda erinnern. Die reinste Schreckschraube. "
"Rhoda
war eine tolle Frau. Du hattest nur keinen Blick für ihre Schönheit." Der
Pick-up holperte über eine unebene Schotterpiste, so dass sie ordentlich
durchgerüttelt wurden. "Woher kommt Zoe?"
"Reading.
Wieso willst du das alles wissen?"
"Wie
alt ist sie?"
"Neunundvierzig,
und sie ist eine tolle Frau."
"Wirst
du sie heiraten?"
"Weiß
ich nicht. Wir haben darüber gesprochen."
Die Piste war mittlerweile nicht einmal mehr mit Schotter befestigt. An einem
Feldrand hielt John an und schaltete die Scheinwerfer aus.
"Wem
gehört das Land?", fragte Kyle leise, als sie ihre Flinten aus dem Wagen
holten.
"Früher
der Familie von Zoes Exmann. Bei der Scheidung wurde es ihr zugesprochen.
Achtzig Hektar, auf denen es nur so wimmelt von Rotwild."
"Willst
du mich veräppeln?"
"Das
ist mein voller Ernst. Alles ganz legal und über jeden Zweifel erhaben."
"Und
du warst ihr Scheidungsanwalt?"
"Das
ist schon fünf Jahre her. Nähergekommen sind wir uns erst letztes Jahr. Oder
vorletztes, so genau weiß ich das nicht mehr."
"Wir
jagen auf Zoes Land?"
"Ja,
aber sie hat nichts dagegen."
Kyle wurde wieder einmal bewusst, wie angenehm das Leben als Anwalt in einer
Kleinstadt sein konnte. Zwanzig Minuten lang gingen sie wortlos am Waldrand
entlang. Als der erste Lichtschimmer das kleine Tal vor ihnen
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