Grisham, John
jede
Sekunde des Videos genauestens analysiert hatten. "Wie Ihnen nicht
entgangen sein wird, ist Elaine Keenan nicht anwesend. Sie behauptet, sie habe
nebenan mit ein paar Freunden getrunken."
"Dann
hat sie ihre Geschichte also wieder geändert." Wright ignorierte es.
"Wenn Sie erlauben", fuhr er fort, "überspringen wir ein paar
Szenen bis zu dem Zeitpunkt, wo die Polizei auftaucht. Erinnern Sie sich an die
Cops?"
"Ja."
Wright startete den Suchlauf und drückte nach ein paar Augenblicken auf eine
Taste. "Um fünf vor halb zwölf findet die Party ein abruptes Ende. Hören
Sie zu."
Die meisten der fünfzehn Gäste waren noch zu sehen. Sie tanzten und tranken und
schrien, als sie plötzlich von jemandem übertönt wurden, der nicht von der
Kamera erfasst wurde. "Die Bullen! Die Bullen sind da!" Kyle
beobachtete sich selbst, wie er ein Mädchen packte und aus dem Blickfeld der
Kamera verschwand. Die Musik verstummte, das Licht wurde ausgeschaltet. Der
Monitor war fast völlig schwarz.
"Aus
meinen Unterlagen geht hervor", fuhr Wright fort, "dass die Polizei
in diesem Frühjahr dreimal in Ihrer Wohnung aufkreuzte. Dies war das dritte
Mal. Ein junger Mann namens Alan Strock, einer Ihrer Mitbewohner, öffnete die
Tür und redete auf die Cops ein. Er schwor, in dieser Wohnung befinde sich
niemand, der nicht alt genug sei, um Alkohol zu trinken. Alles in bester
Ordnung. Er sei gern bereit, die Musik abzustellen und für Ruhe zu sorgen. Die
Cops drückten ein Auge zu und beließen es bei einer Verwarnung. Sie nahmen an,
dass sich die anderen in den Schlafzimmern versteckten."
"Die
meisten sind durch die Hintertür abgehauen."
"Wie
auch immer. Da die Videokamera des Handys auf Sprachaktivierung programmiert
war, schaltete sie sich nach sechzig Sekunden fast völliger Stille ab. Das
Handy lag mindestens sechs Meter von der Wohnungstür entfernt. Der Besitzer
hatte in Panik das Weite gesucht und es vergessen. In dem Chaos hatte jemand
die Dinge auf der Theke weiter in Unordnung gebracht. Das Handy verrutschte,
wodurch sich die Perspektive änderte. Wir sehen nicht mehr so viel wie zuvor.
Für etwa zwanzig Minuten ist alles ruhig. Um 23.48 Uhr hört man dann wieder
Stimmen, und das Licht wird angeknipst." Kyle rutschte näher an den
Monitor heran. Ungefähr ein Drittel des Blickfeldes der Kamera war durch etwas
Gelbes blockiert. "Wahrscheinlich ein Telefonbuch, die Gelben
Seiten", erklärte Wright. Wieder ertönte Musik, wenn auch sehr viel
leiser.
Die vier Bewohner - Kyle McAvoy, Alan Strack, Baxter Tate und Joey Bernardo -
gingen in Shorts und T-Shirts in dem Wohnzimmer herum, wieder mit Drinks in der
Hand. Dann tauchte Elaine Keenan auf, pausenlos redend. Sie setzte sich auf die
Kante des Sofas und schien einen Joint zu rauchen. Nur eine Hälfte des Sofas
war im Bild. Ein unsichtbarer Fernseher wurde eingeschaltet. Baxter Tate trat
zu Elaine, sagte etwas, stellte seinen Drink ab und zog sein T-Shirt über den Kopf.
Kurz darauf lag er mit Elaine auf dem Sofa. Offenbar trieben sie es
miteinander, während die anderen fernsahen und in dem Zimmer herumliefen. Sie
redeten, doch wegen der Musik und des laufenden Fernsehers war nichts zu
verstehen. Alan Strack trat vor die Kamera, zog sein T-Shirt aus und sagte
etwas zu Baxter, der nicht zu sehen war. Von Elaine war nichts zu hören. Jetzt
war nicht einmal mehr die Hälfte des Sofas im Bild, aber man sah
übereinanderliegende nackte Beine.
Dann wurde das Licht ausgeschaltet, und für einen Augenblick schien alles
finster zu sein, doch da der Fernseher lief, war das Zimmer weiter trübe
beleuchtet. Joey Bernardo tauchte auf, zog sich ebenfalls das T-Shirt über den
Kopf. Er blieb stehen und starrte auf das Sofa, wo es offenbar zur Sache ging.
"Hören
Sie gut hin", zischte Wright.
Joey
sagte etwas, das Kyle nicht verstand. "Haben Sie es mitbekommen?",
fragte Wright. "Nein."
Wright hielt das Video an. "Unsere Spezialisten haben die Tonspur
analysiert. Joey Bernardo sagt zu Baxter Tate: >Ist sie wach?< Tate hat
offensichtlich Sex mit Elaine, die wegen übermäßigen Alkoholgenusses völlig
weggetreten ist, und Bernardo bleibt vor dem Sofa stehen, sieht, was los ist,
und fragt sich, ob das Mädchen überhaupt bei Bewusstsein ist. Wollen Sie es
noch mal hören?"
"Ja."
Wright ließ das Video zurücklaufen und spielte die Szene ein zweites Mal ab.
Kyle beugte sich vor, bis sein Gesicht dicht vor dem Monitor war, lauschte
angestrengt und hörte das Wort "wach".
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