Grisham, John
es war nach zwei." Tim zog sich schnell das Hemd
über, als befürchtete er, dass jeden Moment ein Partner auftauchte und ihm
einen Tadel verpasste. "Bis sieben muss ich einen Aktenvermerk für Toby
Roland fertig haben, und ich habe keine Ahnung, was ich rein schreiben soll."
"Ist
doch egal, solange du die Stunden dafür abrechnest", meinte Kyle ohne
jedes Mitgefühl, während er seine Aktentasche ausräumte und den Laptop auf den
Schreibtisch legte.
Tim war inzwischen angezogen und schnappte sich eine Akte. "Ich bin in der
Bibliothek", sagte er. Er sah schon jetzt aus wie ein Wrack.
"Vergiss
das Zähneputzen nicht", rief Kyle ihm nach.
Als Tim weg war, ging Kyle online, auf eine Website namens QuickFace.com. Es
gab einige Websites im Netz, auf denen Amateurschnüffler Phantombilder
erstellen konnten, und Kyle hatte alle ausprobiert. QuickFace war mit Abstand
das detaillierteste und genaueste Programm. Er fing mit Nigels Augen an, die
immer das wichtigste Merkmal eines Gesichts waren. Wenn man die Augen richtig
traf, hatte man einen Menschen schon halb identifiziert. Auf der Website konnte
man aus über zweihundert verschiedenen Arten von Augen auswählen - jede nur
mögliche Rasse, Farbe und Herkunft. Kyle ging die verschiedenen Möglichkeiten
durch, fand die Augen, die am ehesten passten, und begann, das Gesicht
zusammenzusetzen. Nase: schmal und spitz. Augenbrauen: nicht übermäßig buschig,
ziemlich langgezogen. Lippen: sehr schmal. Wangenknochen: höher und breiter.
Kinn: nicht sehr ausgeprägt, eher flach, kein Grübchen. Ohren: oval, anliegend.
Nachdem er die Haare hinzugefügt hatte, nahm er sich noch einmal die Augen vor
und versuchte es mit einem anderen Paar, dann mit einem weiteren. Die Ohren
saßen zu hoch, also verschob er sie ein Stück nach unten.
Er probierte und änderte bis 6.30 Uhr - eine halbe Stunde, die keinem Mandanten
in Rechnung gestellt wurde und daher vergeudet war, es sei denn, er schrieb
seine Stunden für den Rest des Tages etwas großzügiger auf. Als Nigel fertig
und selbst aus zehn Metern Entfernung zu erkennen war, druckte Kyle das
Phantombild aus. Er eilte in die Bibliothek, unter dem Arm eine dicke Akte,
weil alle mit dicken Akten unter dem Arm in die Bibliothek gingen. Sein
Stammplatz war eine dunkle Ecke am hinteren Ende von drei Regalreihen, ein
ruhiges Plätzchen, an dem umfangreiche Bände mit Gesetzesanmerkungen standen,
die seit Jahrzehnten niemand mehr benutzt hatte. Er nahm drei dicke Bücher aus
dem zweiten Regalbrett von unten heraus und holte dahinter einen
unbeschrifteten großen Umschlag hervor. Er öffnete den Umschlag und zog drei
andere Phantombilder heraus - eine genau getroffene Darstellung seines
Erzfeindes Bennie Wright und zwei Zeichnungen der Schlägertypen, die Kyle in
New York City beschatteten. Soweit er wusste, war er ihnen nie näher als fünfzehn
Meter gekommen, und es hatte nie Blickkontakt zwischen ihnen gegeben, doch er
hatte beide des Öfteren gesehen und war ziemlich sicher, dass seine
Phantombilder zumindest ein guter Ansatzpunkt waren. Dass er seiner Sammlung
jetzt Nigels Visage hinzufügte, trug nicht dazu bei, sie als Ganzes
ansprechender zu machen.
Kyle versteckte den Umschlag wieder und ging zu seinem Schreibtisch zurück, wo
Tabor der Streber seine wie immer recht geräuschvollen Vorkehrungen für einen
langen Arbeitstag traf. Die Frage, wessen Karriere am ehesten Fortschritte
machen würde, war schon vor Wochen entschieden worden. Tabor war der Mann, der
Star, der zukünftige Partner im Eilverfahren. Alle anderen konnten einpacken.
Sein Talent hatte er dadurch bewiesen, dass er einmal an einem einzigen Tag
einundzwanzig Stunden in Rechnung gestellt hatte. Er hatte gezeigt, was er
konnte, indem er in seinem ersten Monat mehr Stunden abgerechnet hatte als
jeder andere Neue in der Prozessabteilung - allerdings lag Kyle nur vier
Stunden hinter ihm. Er meldete sich freiwillig für Projekte und graste die
Cafeteria nach neuen Kontakten ab wie ein Berufspolitiker.
"Ich
habe letzte Nacht in der Bibliothek geschlafen", sagte er, sobald er Kyle
sah.
"Guten
Morgen, Tabar."
"Kyle,
hast du gewusst, dass der Teppich in der Hauptbibliothek dünner ist als der
Teppich in der Bibliothek im zweiundzwanzigsten Stock? Ich schlafe ja lieber im
zweiundzwanzigsten, aber dort ist es viel lauter. In welcher Bibliothek
schläfst du am liebsten?"
"Tabar,
wir arbeiten alle zu viel."
"Da
hast du Recht."
"Tim
hat seinen Schlafsack
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