Größenwahn
hm!« Er machte eine Pause in der Hoffnung, daß Jemand widerspreche, um dann eiligst gehörige Einschränkungen zuzufügen. Es meldete sich aber Niemand. »Allein, er hat doch auch viel von einem Streber.«
»Möglich. Ein Genie ohne eine gewisse Streberhaftigkeit (ich erinnere an Richard Wagner) ist ebenso undenkbar, wie ein großer Mann der That ohne Opportunismus und despotische Gesinnung. Dieser Naturtrieb wird zu einer Tugend. Denn das Genie fühlt instinktiv, daß es sich ja nicht zu dem, was es werden soll, entwickeln könne ohne äußeren Erfolg. Und seine Entwickelung scheint ihm identisch mit der Entwickelung seiner Kunst oder Wissenschaft. Daher glaube ich ebensowenig, wie an ein sogenanntes ›faules Genie‹ (Genie ist Fleiß), an ein Genie, das nicht in gewissem Sinne erfolg süchtig ist, weit mehr als ruhm süchtig. Denn der Ruhm im höheren Sinne des Wortes scheint ja dem Genie ohnehin erb- und eigenthümlich.«
»Sie sagen immer ›Genie, Genies‹!« warf Lämmerschreyer giftig ein. »Sie wollen doch wohl Leonhart kein Genie nennen? Sieht der wie ein Genie, wie ein Goethe aus? Dieser Knirps!«
Eine etwas unwillige Bewegung ging durch die Versammlung. Solche knabenhafte Dummdreistigkeit verwundete denn doch selbst die Anwesenden, zumal drei darunter selbst von unansehnlicher Gestalt waren. Krastinik lachte heiter auf:
»Famos, lieber Herr! Deswegen waren auch Napoleon, Cromwell, Friedrich, Byron, Luther, Richard Wagner, Michel Angelo, Mozart, Gambetta, Victor Hugo solche Hünengestalten, nicht wahr? Machen Sie sich nicht lächerlich! Jaja! ›Sieht Er, mit solcher Kanaille muß Ich mich herumschlagen!‹ Aber der brave Pandur, der auf den Helden des Jahrhunderts die Flinte anlegte, sah nur einen gar kleinen Mann in schmutzigem Anzug mit Krückstock und Schnupftabaksdose. ›Kein Held ist ein Held für seinen Lakaien‹ noch für Lakaien überhaupt. Aber bei wem die Schuld, beim Helden oder beim Lakaien?«
Eine betretene Pause folgte, welche Luckner mit dem Ausruf brach: »Ei, ei, Herr Graf, Sie treiben ja mit Leonhart die reine Carlyle'sche Heroenverehrung!«
»Pardon, wenn ich etwas erregt sprach!« entschuldigte sich der Graf gemessen. »Alles begreife ich. Aber die Keckheit, womit der Gewöhnliche über den Ungewöhnlichen urtheilt und an Ausnahmenaturen denselben Maßstab legt, wie an den Dutzendmenschen, ohne je die menschlichen Schwächen der Größe psychologisch zu begreifen – diese Keckheit allerdings verstehe ich nicht. Wenn man mir bewiese, Shakespeare habe gestohlen, so würde ich mich ehrerbietig jedes Urtheils enthalten.«
Holbach zuckte die Achseln. »Sie ziehen aber so übertriebene Beispiele heran! Was heißt Genie!«
»Ja, das frage ich Sie!« erwiderte Krastinik kalt. »Wie nennt man heut Mittelmäßigkeit? Reife. Was heißt Genie? ›Sturm und Drang‹. Und was heißt heut überhaupt so Manches! Was heißt Freundschaft?« Er warf einen anzüglichen Seitenblick. »Die Fehler und Schwächen eines Menschen durch genauere Kenntniß desselben ausspähen. Was heißt Dankbarkeit? Sich durch die Erinnerung empfangener Dienste belästigt fühlen.«
»Ach, ich verstehe. Leonhart wird Ihnen da wieder allerlei vorgegaukelt haben!« Wurmb schob nervös seine Brille zurecht. »Und er selbst – ich könnte Ihnen Wunderdinge –«
»Ach, lieber nicht!« wehrte Jener kühl ab. »Dergleichen kenne ich. O Gott, wenn künftige Goethe-Pfaffen mit ähnlicher Beharrlichkeit auch in modernsten Waschzetteln wühlen sollten! Der Muthigste schaudere bei diesem Gedanken! Was wird nicht alles zusammengeklatscht! Denn das auszeichnendste Merkmal des Durchschnittsmenschen bilden Klatschsucht und Verlogenheit. Alles wird gelenkt von einem großen Gesetz der Lüge. Wer dem Trieb der Selbsterhaltung gehorcht, dämmt übersprudelnden Wahrheitsdrang. Müßte man nicht ein Engel oder ein – Esel sein, um stets zu sagen, was man denkt? Leonhart ist zu nervös aufrichtig, allerdings. Jede Verstellung ist ihm fremd, jede lebenskluge Vorsicht liegt ihm fern und er selbst entfesselt meist die Verleumdung durch seine Unvorsichtigkeit. – Glauben Sie nicht,« fuhr der Graf nach einer Pause fort, »daß ich Incorrektheiten Leonharts bezweifele. Aber der eigentliche Kern seines Wesens ist hochherzig und edel. Seine Richtschnur wird ewig bleiben: Die Gerechtigkeit, und das ist die schwerste Tugend. Strebe am ersten nach ihr und alles andere wird Dir von selber zufallen! Ja, diese strenge königliche Tugend
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